Donnerstag, 12. Februar 1998

12. Februar

"Na, jetzt kannst du nicht mehr ringen wie eine Schwuchtel. Jetzt zeig mal, was du kannst." Dimitri hatte Marcel und mich zum Sparringskampf  eingeteilt, was Silvio veranlaßte durch die ganze Halle zu grölen. Von einer Sekunde auf die andere wurde mir kochendheiß. Es war, als wenn mir jemand den Boden unter den Füssen weggezogen hätte. Stille, warum zum Teufel war es nicht still? Nein, alles lachte, grölte, kicherte. Alle schienen das einfach nur lustig zu finden. Nur Nils guckte krampfhaft auf den Boden und Flo warf mir einen Blick zu, als würde er sich für die anderen entschuldigen wollen.

Ich versuchte meinen Kopf wieder klar zu bekommen. Bloß nichts anmerken lassen. Doch was sollte ich machen? Ich konnte nicht mitlachen. Es ging nicht. Ich merkte, wie die Wut in mir hochstieg. Am liebsten wäre ich auf Silvio losgestürmt. Statt dessen stapfte ich auf die Matte und tat so, als würde mich das alles kalt lassen. Doch je ruhiger ich nach außen wirkte, desto mehr kochte die Wut in mir hoch.

Und diese Wut bekam nun Marcel ab. Ich hatte noch nie so einen perfekten Schulterwurf zustande gebracht. Noch dazu einen  Schulterwurf bei einem Gegner, der zwei Gewichtsklassen über mir war. Ich hörte den Knall, als er auf der Matte landete, ich spürte tatsächlich, wie der Boden bebte und ich hörte wie Marcel aufschrie: "Scheiße nochmal!"

Ich bekam einen tierischen Schreck. Was hatte ich gemacht? Was war passiert? Doch zum Glück hatte er sich nichts getan. "Schon alles in Ordnung", meinte er, als er meinte erschrecktes Gesicht sah: "Du bist wirklich keine Schwuchtel." Er lachte über seinen eigenen Witz, machte einen Highfive mit Silvio und trainierte mit Kevin weiter.

Was um alles in der Welt ging da ab? Wie kommt Silvio plötzlich auf diese Scheiße? Und Marcel? Was ist denn das für ein Arsch? Ich wollte mit Nils reden, doch der ging gerade mit Werner in Richtung Trainerbüro.

Ich taperte in die Umkleide. Mein Herz schlug wie wild, ich war wütend, ich wollte irgendetwas kaputtschlagen. Doch da war nichts. Ich versuchte die Tränen zurückzuhalten, doch das klappte nicht. Die Tür ging auf und ich verstecke mein Gesicht im Handtuch. Keiner soll mich so sehen, wenn mich die anderen so sehen bin ich tot.

"Tim, ich bin's. Alles in Ordnung?" Flo. Gottseidank war es Flo. Ich wischte die Tränen aus meinem Gesicht und schüttelte den Kopf: "Nichts ist in Ordnung."
"Laß ihn reden. Silvio ist ein Penner, das wissen alle."
"Alle, ja, alle haben gelacht. Alle fanden das total lustig. Was läuft hier gerade für ein Ding? Was ist hier los? Weißt du irgendwas?"
"Nichts, da läuft bestimmt nichts. Das ist einfach nur Silvio. Für den ist jeder, der nicht so ist wie er schwul." Vielleicht hatte er ja recht. Aber ich fühlte mich plötzlich so klein. So verletzlich, so gedemütigt.
"Tim, du musst wieder reingehen und zwar schnell. Sonst wird es nämlich wirklich verdächtig."
Er hatte recht. "Und jetzt setze wieder deinen arroganten Hanseatenblick auf."
"Was?"
"Deinen typischen Eigentlich-langweilt-ihr-mich-alle-Blick, den du so perfekt beherrschst."
"Was? Ich? Also..." gerade wollte anfangen zu motzen, als ich plötzlich loslachen musste.
"Ok", meinte Flo, "lachen geht natürlich auch."

Kein Nils. Kein Nils weit und breit. Nachdem er mit Werner in Richtung Trainerbüro getapert war, hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Nicht mehr auf der Matte, nicht mehr nach dem Training in der Umkleide. Ich warte vor der Halle, dann ging ich noch mal rein. Niemand war mehr da, nur noch das Putzteam. War Nils echt schon gegangen? Ohne mich? Ohne mit mir zu reden?

Ich taperte alleine nach Hause. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal nach dem Training alleine nach Hause gegangen bin. Was war plötzlich los? Wo war er?

Ich habe versucht ihn anzurufen. Er geht nicht ans Telefon, niemand von seiner Family. Was geht hier ab????

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