Sonntag, 30. November 1997

30. November

"Ich muß am 18. Dezember nach Starnberg. Dein Vater und Lisa kommen mit. Wie sieht es mit dir aus?"
"Was machst du denn in Starnberg?"
"Es geht um eine Villa, die unser Büro da verkauft. Ein Interessent hat sich angesagt und jemand muß das ja präsentieren. Und da dachte ich mir, wir könnten das gleich als Kurzurlaub vor Weihnachten kombinieren."
"Ich kann nicht, ich habe Wettkampf an dem Wochenende." Das sagte ich ganz automatisch, obwohl ich genau weiß, daß ich da garantiert keinen Wettkampf habe. Aber ich weiß, daß da etwas ganz anderes ist.
"Ja, der ist hier. Moment.", Nils reicht mir den Hörer hin: "Für dich."
"Für mich? Wer ist denn dran?"
"Tim? Gottseidank. Könnt ihr mich abholen? Ich bin in einer Telefonzelle vor der Wohnung von Silvio. Mir geht es gar nicht so sehr gut."
"Was heißt denn das, gar nicht so sehr gut? Flo? Verdammt noch mal, was ist denn los?"
"Mir geht es einfach nicht gut und ich blute..."
"Du Scheiße, bleib wo du bist, wir kommen vorbei."
Ich legte auf. Ich erzählte Nils, was Flo gesagt hatte und wir düsten los. Na toll, das war also unser gemeinsamer Abend. Woher wußte Flo überhaupt, daß ich bei Nils war? Ok, wahrscheinlich hat er es erst bei mir probiert und da ich nicht zu Hause war, hat er sich gedacht, daß ich vielleicht bei Nils bin. Zum Glück weiß Nils, wo Silvio wohnt. Zehn Minuten später waren wir da. Flo hockte neben der Telefonzelle, hielt seinen Kopf fest. Seine Schläfe war blutig.
"Jeez, was hast du denn gemacht?"
"Ich habe gar nichts gemacht. So ein bekloppter Vollproll hat mir ein Ding verpaßt und ich bin gegen einen Schrank geflogen. Und außerdem ist Ina weg und ich bin besoffen."
"Ja, das merkt man."
Ich guckte Nils an, der zuckte mit den Schultern.
"Sollen wir dich in die Klinik bringen?"
"Ihr habt ja wohl ein Rad ab, ihr zwei. Bringt mich einfach nur nach Hause, dann ist schon gut."
Nils zuckte wieder mit den Schultern. Irgendwie war er keine große Hilfe. Aber was sollten wir auch machen? Und so hakten wir Flo unter und taperten mit ihm zu ihm nach Hause. Mir war überhaupt nicht wohl dabei, als wir ihn da so ablieferten. Es war niemand da, wir legten ihn aufs Bett und ich versucht, wenigstens ein bißchen von dem Blut abzuwaschen, um zu gucken, wie groß die Wunde war. Zum Glück schien sie nicht allzugroß zu sein. Vielleicht hatte er ja eine Gehirnerschütterung? Ich fragte ihn noch mal, ob wir nicht vielleicht doch lieber einen Arzt rufen sollen, aber er wurde richtig sauer und brüllte, daß das überhaupt nicht in Frage kommt.
"Wir können ihn so nicht alleine lassen. Wenn er nun wirklich eine Gehirnerschütterung oder so was hat."
"Und was willst du machen? Du hast doch gehört, er will nicht, daß ein Arzt kommt."
"Dann laß uns wenigstens hier bleiben, bis jemand von seiner Family kommt."
Nils nickte: "Wird wohl besser sein."
Und so machten wir es uns, so gut es ging auf dem kleinen Sofa in Flos Zimmer gemütlich und pennten irgendwann sogar ein. Um kurz vor fünf wachte ich auf. Flo stand vor mir: "Wart ihr die ganze Nacht hier?"
"Muß ja wohl sein, oder denkst du, wir sind eben erst angekommen? Wie geht's dir?"
"Mir brummt der Kopf, aber sonst ist alles ok. Und das Ding hier", er deutete auf seine Schläfe, "blutet auch nicht mehr. Aber sonst, alles Scheiße, Ina war weg. Und dann war da dieser beknackte Typ und irgendwie habe ich dich angerufen, oder Nils. Ich krieg das alles nicht mehr richtig zusammen."
Nils wachte auf. Schlecht gelaunt. "Können wir jetzt gehen?"
"Ich denke schon."
"Danke", meinte Flo, als wir fast draußen waren. "Danke, Tim, du bist wirklich ein toller Kumpel."
Ja, vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Mir tut es leid, um den schönen Abend, um die Nacht, die ich mit Nils hätte verbringen können. Und jetzt tapern wir durch das noch nicht aufgewachte Bergbach. Uns ist kalt. Irgendwann schauen wir uns an. Schütteln gleichzeitig den Kopf und fangen an zu grinsen: "Schon verrückt alles."
Nils nickt: "Und wir auch."
Ich glaube er hat recht.

Samstag, 29. November 1997

29. November

"Er schläft in einem Bett mit dir. In deinem Zimmer, in deinem Bett. In unserem Bett."
Nils blickte mich an. Ich schwieg. So langsam dämmerte es mir.
"Die Sache mit Leipzig war etwas total anderes. Wenn er jetzt aber bei dir, in deinem Zimmer ist, da wo wir..."
"Also soll ich ihm absagen."
"Ja, nein. Ich weiß nicht."
"Nils, es wird nichts passieren. Ich meine, meine Eltern sind da, Lisa. Nicht mal wir haben was miteinander, wenn die alle im Haus sind. Da habe ich doch erst recht nichts mit Heiko."
Jetzt war mir aber wirklich klar, was Nils meint. Und irgendwie, irgendwie kann ich es sogar verstehen. Und gleichzeitig wünsche ich mir genau das. Heiko hier zu haben. Hier bei mir, in meinem Zimmer, in meinem Bett. Für ein paar Stunden einfach das Gefühl haben er ist bei mir. Ich schwieg. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Vielleicht wäre es wirklich das einfachste, Heiko abzusagen. Aber es wäre nicht ehrlich. Es wäre irgendwie doch wieder eine Flucht. Ich schaue Nils an, meinen Nils. Ich liebe ihn wirklich und ich will ihm nicht weh tun.
"Ich sage Heiko ab."
"Nein, Tim, mach das nicht. Wenn du mir sagst, er pennt einfach nur bei dir und ihr habt nichts miteinander, dann ist es ok. Ich meine, es ist nicht wirklich ok für mich, aber, ach du weißt, was ich meine."
Ich nehme ihn in den Arm. Wenn Heiko wüßte, was er eigentlich anrichtet. Aber vielleicht weiß er es auch. Vielleicht weiß er es ganz genau.
Damit war das Thema Heiko zwischen Nils und mir erstmal vorbei.
Wir gingen spazieren. Endlich war es mal nicht naß. Aber es war kalt. Bergbach ist bereit für Weihnachten. Überall Adventsdeko, Lampen, richtig kitschig. Aber irgendwie sieht es auch schön aus. Und mitten in dieser kitschigen, vorweihnachtslichen Fachwerkstimmung tapern Nils und ich durch die Fußgängerzone wie ein altes Ehepaar. Schon ganz schön strange. Das Venezia hat zu. Kein Mensch ißt um diese Jahres- und Uhrzeit Eis. Jedenfalls nicht in Bergbach. Wir kommen an Tobis Haus vorbei. Es brennt kein Licht. Wahrscheinlich ist seine Mutter mit nach Heidelberg gegangen. Wie es ihm wohl geht? Ich müßte mal versuchen, ihn anzurufen.

Heute Abend penne ich bei Nils. Seine Eltern sind zwar da, aber es reicht, wenn wir einfach nur zusammen sind. Ich freue mich darauf.

Freitag, 28. November 1997

28. November

"Es ist wegen Ina."
"Wer ist Ina?"
"Ein Mädchen, das Silvio kennt."
"Ein Mädchen, was Silvio kennt. Also so eine Fascho-Tante?"
"Tim, du bist manchmal echt zum Kotzen. Es muß doch nicht jeder, den Silvio kennt, ein Fascho sein."
"Ja, ist ja schon gut. Und was ist nun mit dieser Ina?"
"Na, die kommt morgen auch zur Party."
"Aha, und weil du was von ihr willst, taperst du auf die Party von Silvio."
"Yo."
Ich nickte. Manchmal vergesse ich, daß Flo ja hetero ist und natürlich hinter irgendwelchen Mädels hinterher ist. Ich habe ihm jedenfalls gesagt, daß ich auf jeden Fall nicht mitkomme zu Silvio. Das muß ich mir echt nicht antun. Bestimmt ist da auch sein enthirnter Bruder und das Ganze ist dann irgendein Massenbesäufnis. Außerdem möchte ich den Abend, wo wir mal keinen Wettkampf haben, viel lieber mit Nils alleine verbringen.
"Aber du kannst sie mir ja gerne mal vorstellen. Wenn es was mit euch geworden ist. Woher kennst du sie eigentlich?"
"Sie hat Silvio mal vom Training abgeholt."
"Dann ist das Silvios Mädel? Florian! Vergiß es. Was soll das denn werden?"
"Die sind nicht zusammen. Echt nicht. Aber sie ist total niedlich."
Flos Gesicht bekam so einen merkwürdigen Ausdruck, so als wäre er für einen Moment nicht mehr auf dieser Welt. Oje, der Gute ist verliebt. Und so wie es aussieht ganz schön heftig. Na gut, also dann bin ich ja mal gespannt.
"Ruf mich an, wenn du jemanden zum Quatschen brauchst, ok?" Ich weiß ja auch nicht, warum ich das gesagt habe. Das klingt irgendwie so nach Briefkastenonkel. Aber Flo fand es, glaube ich, ganz ok.

Nils hat gerade angerufen. Er will heute Abend mit mir über was reden. Über was, hat er nicht gesagt. Aber ich glaube, es geht um die Sache mit Heiko. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Soll ich Heiko absagen? Vielleicht wäre das am einfachsten. Keine Probleme, keine Angst, irgendwas falsch zu machen. Aber auf der anderen Seite freue ich mich einfach zu sehr darauf, ihn wiederzusehen. Immerhin hat ER MICH angerufen und gefragt, ob er vorbeikommen kann. Das tut mir irgendwie richtig gut. Aber wenn Nils damit Probleme hat? Ich weiß nicht, ich werde mal sehen, was er sagt.

Donnerstag, 27. November 1997

27. November

"Warum ruft er ausgerechnet dich an?"
"Na bestimmt, weil er niemand sonst hier kennt."
"Wenn man was in Stuttgart zu tun hat, dann übernachtet man nicht in Bergbach."
"Was weiß denn ich?"
Mir war die Diskussion unangenehm und ich wollte sie am liebsten beenden. Sie war mir deshalb unangenehm, weil Nils mir genau die Fragen stellte, die mir durch den Kopf gingen seit ich den Hörer nach dem Telefonat mit Heiko aufgelegt hatte. Er hatte recht. Warum will Heiko bei mir pennen, wenn er doch was in Stuttgart zu tun hat? Vor allem was hat er in Stuttgart zu tun? Das hat er gar nicht gesagt und ich war gar nicht auf die Idee gekommen, ihn zu fragen. Auf der anderen Seite, was für Gründe könnte es denn sonst geben? Kommt er MEINETWEGEN hierher? So ein absoluter Schwachsinn. Wieso sollte er? Er hat einen Freund und wenn er noch mehr Sex will, dann kann er bestimmt in Köln genug Jungs haben. Aber es ist trotzdem seltsam. Warum pennt er nicht in Stuttgart? In irgendeiner Jugendherberge? Die Fahrerei von Bergbach nach Stuttgart muß er doch auch irgendwie bezahlen. Je mehr ich darüber nachdenke, desto verwirrter bin ich und vor allem wird alles immer undurchsichtiger. Ich versuche, für heute nicht mehr daran zu denken.
Nils ist über die ganze Sache nicht begeistert. Was ich ja auch zum Teil verstehen kann. Aber ich verstehe es irgendwie nicht, weil in Leipzig hat er nicht so reagiert. Irgendwie ist alles sehr komisch.

Lisa geht es besser. Sie hustet zwar noch, aber sie hat kein Fieber mehr und sieht auch nicht mehr so fertig aus. Aber ich bin heute auch noch nach der Schule zu Hause bei ihr geblieben und nicht zum Training gegangen. Wenn ich ehrlich bin, genieße ich das sogar, mal nicht zum Training zu müssen und einfach nur den Nachmittag nichts zu machen oder mich mit Lisa zu beschäftigen. Zum Abendessen konnte sie sogar wieder gemeinsam mit uns am Tisch sitzen.
Ich bin müde. Ich will nicht, aber ich muß wieder an Heiko denken. Ich freue mich, daß er kommt. Ich freue mich wirklich richtig. Aber ich habe auch Angst. Angst, etwas Falsches zu sagen, was Falsches zu machen. Heiko hier bei mir zu Hause. In meinem Zimmer. Wo will er pennen? In meinem Bett? Bringt er einen Schlafsack mit? Das wäre ja absolut bekloppt. Ich weiß es nicht. Shit!

Mittwoch, 26. November 1997

26. November

"Wie, du meinst, du kannst heute auch nicht zum Training kommen?"
"Nein, wirklich nicht. Mom muß ja am Nachmittag wieder nach Ulm und ich muß auf Lisa aufpassen."
Nils nickt: "Schon klar." Und ich glaube er hat es sogar verstanden.
"Aber ich kann das Training nicht ausfallen lassen und vorbeikommen, das geht nicht."
"Sollst du doch auch nicht. Gehst halt hin und fertig. Vielleicht magst du ja hinterher noch zu mir kommen."
"Das ist doch 'ne Idee."
Ich weiß nicht, ob es Lisa wirklich besser geht. Das Fieber ist schon ein bißchen weniger. Aber ich weiß eben nicht, ob das an dem Saft oder dem Antibiotikum liegt, was Mom ihr gegeben hat. Lisa und ich malen zusammen um die Wette: Häuser, Berge, Menschen, Wiesen, Blumen und immer wieder lachende Sonnen. Dann schläft sie irgendwann wieder ein. Und ich auch. Bis mich das Telefon weckt. Ich torkele in mein Zimmer, noch völlig beduselt.
"Hi, du bist ja doch zu Hause."
"Blöde Frage, könnte ich sonst ans Telefon gehen?"
In dem Moment merke ich erst, wer da dran ist.
"Ich dachte du hast heute Training."
"Habe ich eigentlich auch, aber, ach, ist ja auch egal. Ist zu kompliziert das zu erklären. Wie geht's dir?"
Ich gucke um die Ecke: Lisa schläft.
"Gut, prächtig. Ich rufe an, weil, diesmal klappt das wirklich mit dem nach Stuttgart kommen. In der Woche vor Weihnachten. Und ich wollte fragen, ob ich ein, zwei Nächte bei dir pennen kann?"
Es war so einfach gewesen. Es hatte sich alles so schön geglättet und beruhigt. Bis zu diesem Moment. Von einer Sekunde auf die andere war alles wieder da. Zum zweiten Mal kündigt sich Heiko an und diesmal scheint es wirklich ernst zu sein.
"Na klar, kein Problem", höre ich mich sagen. Wir verabreden, daß wir am Wochenende noch mal genau telefonieren werden, wie wir das regeln. Dann legen wir auf. Was habe ich gesagt? Kein Problem? Ja, ICH habe das gesagt. Alles andere wäre nicht ICH gewesen. Die Haustür geht auf. Mom und Phil kommen. Lisa schläft noch. Ich setze mich neben ihr Bett. Warum mache ich mir das alles so kompliziert? Für Lisa ist alles so einfach. Als ich so alt war wie sie, war die Welt auch so einfach für mich. Immer schien die Sonne, alle lief wie von selbst, keine Gedanken, keine Probleme hatte ich. Hatte ich wirklich keine?

Es klingelt. Nils steht vor der Tür: "Burger Lieferservice, einmal Big Mac Menü mit großer Pommes."
"Komm rein. Schön, daß du da bist."
"Was ist los? Du klingst so durch den Wind? Ist was mit Lisa? Ist es schlimmer geworden?"
Ich schüttele den Kopf. Was mache ich jetzt nur?

Dienstag, 25. November 1997

25. November

"Mit dem Fieber kann sie aber nicht in den Kindergarten gehen."
Lisa hat heute die ganze Nacht über gehustet und am Morgen hatte sie Fieber. Mom ist bei ihr geblieben. Lisa sah richtig krank aus. Als ich von der Schule zurück kam, war Mom schon mit ihr beim Arzt und er meinte, Lisa hätte eine Lungenentzündung. Was ich nicht ganz verstehe. Ich meine, wo kriegt sie denn so schnell eine Lungenentzündung her? Auf jeden Fall hat sie immer noch ziemlich hohes Fieber und hustet heftig. Ich bin nicht zum Krafttraining gegangen sondern bei ihr geblieben. Mom mußte noch mal nach Ulm, irgendwelche Unterlagen holen, damit sie notfalls in den nächsten Tagen zu Hause arbeiten kann.

Irgendwie habe ich Lisa sicher zum 25. Mal die Geschichte von dem fliegenden Schwein vorgelesen, aber sie wollte sie immer wieder hören. Irgendwann schlief sie ein. Das Telefon klingelte. Es war Nils. Er wollte wissen, ob er vielleicht vorbeikommen soll. Ich habe gesagt, daß das nicht nicht nötig ist. Aber ich liebe ihn dafür, daß er das gefragt hat.

Lisa schläft. Ich habe die Tür offen gelassen, damit ich höre, wenn sie aufwacht oder wenn sie ruft. Draußen ist es entsetzlich dunkel und auf einmal merke ich, wie still es überall ist. Ich setze mich an den Computer und surfe ein bißchen im Internet. Ich finde tatsächlich diese Seite wieder, die sich mit schwulen Ringern befaßt. Oder mit dem schwulen Ringen? Ich werde nicht so ganz schlau draus. Irgendwie habe ich auch ein Ohr immer bei Lisa. Ich überlege, ob ich eine E-Mail schicken sollte. Ich lasse es. Wer weiß, wer da am anderen Ende sitzt. Ich höre Moms Wagen die Einfahrt hochkommen.

Montag, 24. November 1997

24. November

"Sorry noch wegen Freitag."
Ich stand an der "Galerie", guckte ins Tal und überlegte, wann wohl der nächste Schnee zu erwarten wäre, als Jonas mich von hinten ansprach.
"Was?"
"Wegen Freitag. Ich glaube, ich war ziemlich dicht in der Tofa."
"Schon ok. Schon vergessen."
"Was wollte er denn?", fragte Nils, nachdem Jonas weg war.
"Er wollte sich entschuldigen, wegen Freitag."
"Entschuldigen? Ganz schön strange drauf der Typ."
Ich zuckte mit den Schultern.
Flo will wissen, ob ich am Samstag zu Silvios Party komme. Ich habe nein gesagt. Ich meine, erst mal hat mich Silvio nicht eingeladen und dann kann ich mir wirklich spannendere Orte vorstellen als auf so einer Party bei Silvio und seinen Fascho-Freunden. Mich wundert nur, daß Flo wohl hingehen will. Wo er doch eigentlich auch nichts mit Silvio zu tun hat.

Heute hat Nils mit seinem tollen Sondertraining begonnen. Eine Stunde nach dem regulären Training haben wir noch in der Halle zugebracht und die ganze Stunde lang nur einen Griff geübt. Wenn er meint, daß das was bringt, na gut. Aber ich weiß ja eben nicht, wofür ich nun trainiere. Es gibt kein Ziel. Vielleicht wäre es ja wirklich alles anders, wenn da ein Ziel wäre. Aber so...

Sonntag, 23. November 1997

23. November

"Sag mal, du treulose Tomate."
Das war Doris.
Oh Shit!!!
Doris. Freitag Abend. Tofa. Na klar. Doris war auch in der Tofa. Ich war so bebiert und dann noch mit der Sache mit Jonas beschäftigt... Irgendwann sind Nils und ich dann abgezogen, und haben gar nicht mehr an die anderen gedacht, die noch da waren. Zum Glück ist Doris nicht allzu sauer. Ich habe ihr auch erzählt, was da mit Jonas war. Sie meint, ich soll das nicht so wichtig nehmen und daß er bestimmt nichts weiß oder ahnt. Na schauen wir mal, wie er morgen in der Schule ist.
"Ich dachte, du bist besser."
"Ach ja? Na toll, fang du auch noch damit an."
"Was ist denn los mit dir?"
"Nichts. Wieso?"
"Du bist so empfindlich. Ich meine doch nur, daß ich dich schon mal besser ringen gesehen habe."
"Ja, mag ja sein."
"Was ist denn los? Krank? Verletzt?" Benji war aber auch so was von neugierig. Natürlich hatte ich verloren, nach einer halben Minute lag ich auf dem Rücken. Keine Chance gegen ihn. Und hinterher mußte ich mir dann noch dieses Verhör gefallen lassen.
"Na, vielleicht hast du ja nur ein kleines Formtief. Willst du ein paar Extra-Trainingsstunden?"
"Nee, laß mal. Ich glaub', das bringt im Moment nichts."
Ich schielte rüber zu Nils, der gerade auf der Matte war. Es sah ziemlich easy aus, was er da so machte. Zum Glück kam jemand von Benjis Freunden an und ich war erlöst. Mein Kopf war wieder ganz woanders. Ich komme mir in letzter Zeit immer mehr vor, als wenn ich einen Film sehe. Irgendwie sehe ich von außen einen Film, alles passiert um mich rum und ich bin gar nicht dabei. Ich bin nur ein Beobachter. Und trotzdem ist es ein Film, wo ich die Hauptrolle spiele. Die ganze Welt um mich rum ist irgendwie nicht meine Welt. Alles dreht sich nur um Sachen, die mich nicht interessieren. Darum, wer mit welchem Mädel geht, wer mit welchem Mädel geschlafen hat, wie man sie am besten rumkriegt. Und ich, ich stehe irgendwie mit Nils ganz weit draußen. Wir gehören nicht dazu. Wir gehören nicht zu dieser Welt. Was natürlich bekloppt ist. Aber es ist schon irgendwie so.
Nils kommt von seinem Kampf von der Matte. Er hat haushoch gewonnen.
"Jetzt ist Schluß mit der Schlamperei", meinte er, noch ehe er sich seinen Kapuzenpulli übergezogen hatte. "Ab nächster Woche gibt es wieder Sondertraining."
"Ach ja? Na wenn du meinst."
Ich denke mal, daß Benji in seinem Verein so was ist wie Nils bei uns. Deshalb sagte ich lieber gar nichts. Was soll das auch? Wenigstens gab es unser tolles großes Pizza-Essen hinterher und ich habe mir mal wieder richtig den Bauch vollgeschlagen. Dabei ging es mir nach dem ganzen Bier von der Tofa-Session gar nicht so schlecht wie ich eigentlich gedacht hatte.

Nils hat wieder bei mir gepennt. Ich weiß gar nicht, was Mom und Dad denken. Naja, sie werden denken, daß wir irgendwelche bekloppten Videos sehen, Bier trinken und fertig. Glaube ich jedenfalls. Es ist schön, wenn er da ist. Obwohl wir diesmal nicht miteinander geschlafen haben. Irgendwie trauen wir uns das nicht, wenn noch jemand im Haus ist. Aber ist einfach auch nur schön, ihn neben mir im Arm zu haben. Seinen Atem, einfach nur ihn zu spüren.
"Nächste Woche", murmelte er beim Einschlafen, "nächste Woche geht es wieder los mit Sondertraining."
"Ja", flüsterte ich in sein Ohr, "nächste Woche."

Samstag, 22. November 1997

22. November

"Ach herrje, die ganzen Kiddies aus der Zwölften. Und da ist ja auch unser Mr. Neugierig."
Ich war gerade dabei, das soundsovielte Bier für Nils und mich zu holen, als Jonas mir über den Weg lief. Komisch, ich hatte ihn noch nie vorher in der Tofa gesehen. Aber das lag vielleicht auch da dran, daß ich ihn vorher auch gar nicht kannte. Jonas war besoffen, jedenfalls noch verpeilter als wir, denn er hatte Schwierigkeiten gerade zu gehen. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. "Was machst du denn hier in der Tofa?"
"Wieso? Dürfen Schwule jetzt nicht mehr in die Tofa? Stört es dich etwa, daß ich hier bin? Stört es dich, daß hier auch Schwule reindürfen?"
Das Gespräch war peinlich, Jonas war peinlich. Shit, bin ich auch so peinlich, wenn ich so bebiert bin?
"Ich meine", ich fing an zu stottern, "was machst du denn hier? Das ist doch kein schwuler Laden hier?" Was für eine bekloppte Frage. Aber irgendwie mußte ich ja versuchen, aus der Situation herauszukommen.
"Was weißt du denn schon über schwule Läden? Hä?"
"Na jedenfalls laufen im X1 mehr Schwule rum. Oder im Dorian."
Es war, als hätte jemand die Musik ausgestellt, als wären alle Menschen um uns herum plötzlich verschwunden. Da war auf einmal nichts mehr. Nur noch Jonas und ich in einer leeren, total stillen Tofa. Und Jonas schien von einer Sekunde auf die andere nüchtern geworden zu sein. Und erst in dem Augenblick wurde mir bewußt, WAS ich da eben gerade gesagt hatte. Jonas Augen verengten sich und er begann zu grinsen: "Woher kennst du das Dorian?"
Schweigen, dann: "Du bist auch schwul. Du bist eine verdammte kleine Schwuchtel. Und dein Kumpel, mit dem du immer rumhängst, dieser coole Sportheini, das ist dein Freund. Na klar!"
Dieses verdammte Bier. Ich versuchte, klar zu denken, mir irgendwas zusammen zu spinnen. Nachdenken, nachdenken. Wie komme ich aus dieser Situation raus? In meinem Kopf ging es rund wie in einem Mixer, aber ich konnte keinen vernünftigen Gedanken fassen. Ich schaute ihn einfach nur an. Ich blickte Jonas in die Augen und sagte nichts.
"Ok, ok, schon gut. Vergiß es! Ich geh lieber, bevor ich noch mal eins auf's Maul kriege."
Er drehte sich um und zog ab. Ich stand da eine ziemliche Weile und versuchte, meine Gedanken wieder zu ordnen.
"Kommst du auch irgendwann mal mit dem Bier? Dann hätte ich ja gleich selber gehen können. Tim? Tim! Hallo? Jemand zu Hause? Was ist denn los?"
"Jonas hat mich eben gefragt, ob ich schwul bin." Ob wir schwul sind korrigierte ich mich in Gedanken.
Ich weiß nicht, ob es daran lag, daß Nils auch schon etwas abgefüllt war, aber er rastete nicht aus sondern fragte nur: "Und? Was hast du geantwortet?"
"Nichts. Gar nichts. Bevor mir überhaupt was eingefallen ist, ist er abgezottelt. Ich glaube, er hatte Angst, daß ich ihm eine runterhaue nach der Frage."
Nils grinste: "Du kannst aber wirklich manchmal richtig böse gucken."
"Ich? Böse gucken? Ach geh'!"
"So was kommt von so was."
"Ja, ja."
"Und nun?"
"Was und nun?"
"Was passiert jetzt?"
"Was weiß denn ich? Keine Ahnung!"
"Der läßt bestimmt keine Ruhe. Findest du ihn irgendwie niedlich?"
"Nein. Also ich weiß nicht. Nein, wirklich nicht."
Ich mußte überlegen, wie Jonas eigentlich aussieht. Gut? Schlecht? Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht schlecht. Aber auch nicht gut. Also nicht so, daß ich mich in ihn verlieben könnte. Äh, nee, was ist denn das wieder. Nein, also Jonas ist nicht mein Ding. So. Und das habe ich auch Nils gesagt.

Aber die ganze Sache geht mir doch noch ziemlich durch den Kopf. Jonas hat es denn Leuten aus seiner Stufe gesagt. Und es geht ihm nicht gut damit. Also irgendwie ist mir dann auch klar, daß ich das nicht machen werde.

Ich habe gerade mal nachgeguckt. Wir haben heute Wettkampf gegen Degendorf. Toll, gaaanz toll! Das heißt, daß ich wahrscheinlich gegen Benji antreten darf. Eigentlich kann ich gleich zu Hause bleiben. So ein Mist!

Freitag, 21. November 1997

21. November

"Hey was geht? Heute Abend also Tofa?"
"Ich glaube nicht. Ich bin nicht in der Stimmung dazu."
"Du nicht in der Stimmung dazu? Was ist denn los? Frisch verliebt? Liebeskummer? Oder einfach nur schlecht gegessen?"
"Verdammt noch mal, hast du nicht gehört, daß Tobias heute nach Heidelberg in die Klinik muß? Sie haben wieder einen Tumor festgestellt."
Für einen Augenblick schwieg Flo. Also hatte sich die Sache noch nicht herumgesprochen. Es ist schon seltsam. Da outet sich jemand als schwul und die Story ist innerhalb von einer Stunde in der ganzen Schule rum. Und ein anderer hat Krebs und niemanden interessiert es.
"Es klingt zwar vielleicht herzlos. Aber hilft es Tobias, wenn wir jetzt alle für ewig und immer in Trauer verharren?"
Ich schaute Flo fragend an. Was meinte er damit?
"Ich meine, es hilft ihm doch nicht, wenn wir jetzt alle nur noch zu Hause sitzen und nichts machen. Ich glaube, er hätte nichts dagegen, wenn wir so weiterleben wie bisher. Und vor allem, es ist wieder Krebs. Aber das heißt ja noch nicht, daß er stirbt, oder? Die kriegen das bestimmt wieder in den Griff. Paß mal auf, Tobias wird noch das beste Abitur von Bawü machen."
Eigentlich wollte ich ja was antworten. Das ich das für absolut fies und herzlos halte. Aber je länge ich darüber nachdachte, desto mehr erschien es mir, daß er recht hat. Vielleicht ist es ja wirklich gar nicht so schlecht, um auf andere Gedanken zu kommen. Ich glaube, wenn heute Training wäre, dann würde ich wie wild trainieren, nur um auf andere Gedanken zu kommen. Aber so...vielleicht hat Flo ja wirklich recht. Also gehen wir heute alle in die Tofa. Schon verrückt. Sogar Doris kommt mit. Doris in der Tofa. Total strange.

Donnerstag, 20. November 1997

20. November

"Ich muß wieder ins Krankenhaus. Irgend etwas ist wieder gewachsen. In der Milz."
Das war so eine von diesem scheußlichen Situationen. Ich kam gut gelaunt über den Hof als mir Tobi über den Weg lief. Ich fing an rumzublödeln und fragte ob alles ok wäre. Und dann das! Ich kam mir auf einmal so albern und unpassend vor. Ich konnte nur noch stottern: "Wie? Was gewachsen? Ich denke es ist alles weg. Mit dem Chemozeugs und der Bestrahlung."
"93 % Heilungsrate. Wie es aussieht, gehöre ich zu den restlichen 7 %."
"Shit!" Ganz spontan nahm ich ihn in den Arm. Das war einfach so ein Tröstindenarmnehmen, niemand konnte sich dabei irgendwas denken. "Wann mußt du rein?"
"Morgen. Ich muß nach Heidelberg. Da gibt es wohl irgendeinen Spezialisten dafür."
"Die kriegen das hin. Ganz bestimmt. Sie haben es doch beim ersten Mal auch hingekriegt."
"Wohl doch nicht so ganz."
"Hey komm, du schaffst das. Ich komm dich auch besuchen. Wir kommen dich alle besuchen."
An wen dachte ich denn bei 'wir alle'? Wer würde kommen, um Tobias zu besuchen? Außer mir vielleicht noch Nils und Doris und das war es dann. Aber ich sah, wie er lächelte. Er lächelte trotz dieser bekloppten Nachricht. Tobias hat wieder Krebs, oder immer noch. So eine Scheiße. Und ich mache mir Gedanken um irgendwelche Coming-Out-Sachen an der Schule.

Ich weiß nicht, ob es Tobi recht ist, aber ich mußte es einfach Nils und Doris erzählen. Ich glaube, die beiden waren fast genauso fertig wie ich.

Ich liege auf meinem Bett, höre Eno und denke nach, träume. Und seltsamerweise denke ich nicht an Tobias. Ich denke an Heiko. Und zum ersten Mal seit langer Zeit tut es nicht weh, wenn ich an ihn denke. Zum allerersten Mal bin ich einfach nur glücklich, daß ich ihn kenne, das wir befreundet sind. Es tut nicht mehr weh, ich bin nicht mehr traurig. Es ist einfach nur schön, daß es ihn gibt, daß wir miteinander reden können, daß ich ihn irgendwann wiedersehen werde und daß wir uns dann wieder vom ersten Augenblick an verstehen werden, auch ohne daß wir etwas sagen müssen. Es ist ein total schönes, warmes Gefühl. Es ist schön, daß es ihn gibt!

Mittwoch, 19. November 1997

19. November

"Siehst du, das kommt davon. Jetzt mußt du immer wieder da dran rumrasieren."
Irgendwie scheint Nils recht zu haben. Meine Haare auf der Brust und am Bauch sind nachgewachsen, pieksen und sehen nicht so dolle aus. Ich überlege, ob ich sie wieder abrasieren soll. Ich weiß, daß Nils das nicht so toll findet. Aber ich fand es gar nicht so schlecht, als alles glattrasiert war. Vielleicht findet es Nils ja nur deshalb nicht so gut, weil er selbst fast gar keine Haare da hat. Ich glaube, ich rasiere sie wieder ab.

Das Deutsch-Referat ist ganz gut gelaufen, Germany twelve Points. Wenn ich mir überlege, daß ich fast nichts dafür gemacht habe.

Habe heute beim Training das erste Mal seit dem Wochenende Gelegenheit gehabt, mit Flo über die Party zu reden. Er ist immer noch total abgenervt, daß Kevin ins Bad gekotzt hat und er das alles wegputzen mußte.
"Selber schuld", meinte ich, "eigentlich gilt doch: 'Wer kotzt putzt!' Außerdem ist es auch kein Wunder, bei DEN Cocktails, die du gemacht hast. Bier hätte voll ausgereicht."
"Das ist auf jeden Fall die letzte Party, die ich für lange Zeit mache. Jetzt sind die anderen auch mal dran. Zum Beispiel du, oder Nils."
"Wenn ich 18 werde, dann vielleicht."
"Das ist ja noch ewig hin. Irgendwann im März, oder?"
"Yo. Aber vorher mache ich bestimmt nichts. Wir können ja Kevin fragen. Dann kannst du SEIN Bad vollkotzen."
"Bäh, Tim, hör' auf, das ist so eklig."
"Wir können ja am Freitag in die Tofa gehen. Ich hab im Flyer gelesen, da gibt's jetzt immer freitags fünf Beck's für zehn Mark."
"Klingt ja richtig gut, lohnt sich. Halten wir mal fest."

Dienstag, 18. November 1997

18. November

"Na toll. Das habe ich mir ja schon fast gedacht."
Nils und ich saßen im Glaskasten. Ich hatte ihm die Story mit Jonas doch erzählt. Was heißt überhaupt Story.
"Und jetzt rennt er rum und erzählt der ganzen Schule, daß du schwul bist."
"Das macht er garantiert nicht, weil er das gar nicht weiß. Ich habe ihm nicht gesagt, daß ich schwul bin. Er denkt, ich bin nur irgendein neugieriger Typ aus der unteren Stufe. Er weiß nichts!"
"Wenn das rauskommt, Tim, wenn hier irgendwie rumgeht, daß du schwul bist, dann kenne ich dich nicht mehr. Hier nicht mehr und im Verein auch nicht mehr."
Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Das war Nils. Ja, das war er und irgendwie überraschte es mich gar nicht so sehr, was er sagte. Was mich viel mehr überraschte, war die Absolutheit mit der er das sagte, fast aggressiv. Ich guckte ihn an: Das war Nils? Mein Nils? Der mir androht, das er mich einfach so von einen auf den anderen Tag nicht mehr kennen würde, wenn jemand mitkriegt, daß ich schwul bin? Wieso überhaupt nur ich? Wir sind beide schwul. Nils genauso wie ich.
"Verdammt noch mal. Was ist denn los mit dir? Ich will doch auch nicht, daß es die ganze Schule mitkriegt."
Ich hatte Angst, daß er wieder so ausrastet wie die letzten Male. Vielleicht hatte er ja mitgekriegt, was er da gesagt hatte, denn plötzlich entschuldigte er sich: "Ich habe es nicht so gemeint. Es tut mir leid. Ich will nur nicht, daß irgendwas zwischen uns kommt und wir uns nicht mehr sehen können. Es ist echt alles so verflucht schwer."

Ich wollte ihn so gerne in den Arm nehmen, aber das traute ich mich natürlich nicht im Glaskasten. Deshalb drückte ich nur seine Hand ganz fest.

Montag, 17. November 1997

17. November

"Was starrst du mich so an?"
Hatte ich ihn tatsächlich angestarrt? Er mußte es bemerkt haben. Sein Tonfall war halb aggressiv, halb einfach nur fragend. Was sollte ich sagen? Jonas saß auf den Stufen vor dem Triumphbogen und hatte wohl genauso eine Freistunde wie ich. Ich hätte mich umdrehen und einfach weggehen können. Ich hätte mit der Schulter zucken können und sagen können, er bildet sich das nur ein. Aber das machte ich alles nicht. Statt dessen ging ich zu ihm rüber und sagte: "Ich wollte dich mal was fragen..."
"Du bist in der Stufe unter mir, oder?"
"Ja."
"Und du willst mich bestimmt fragen, ob ich wirklich schwul bin, warum ich nicht auf Mädchen stehe und so was."
"Nein."
Zum ersten Mal sah ich so etwas wie Erstaunen in seinem Blick.
"Und was willst du nun fragen? Bist du auch schwul? Mensch, mach es doch nicht so spannend."
Ich überhörte den ersten Teil seiner Frage: "Ich will wissen, warum du in der ganzen Schule rausposaunt hast, daß du schwul bist."
"Ich habe es nicht in der ganzen Schule rausposaunt. Ich habe es den Leuten in meinem Kurs gesagt. Aber wie wir ja sehen, ist es schon überall rum. Wahrscheinlich weiß sogar schon jeder Fünftklässler hier Bescheid."
"Ist ja wohl auch klar. Hier gibt es doch sonst nichts Interessantes, was passiert."
"Scheißegal."
"Also, warum hast du es den Leuten im Kurs erzählt?"
"Weil ich echt keine Böcke mehr darauf habe, immer nur noch Versteck zu spielen. Dieses ewige Fragen: Hast du eine Freundin, warum hast du keine Freundin? Das hat mich nur noch so abgenervt."
Shit, das kommt mir alles so bekannt vor. Und das hätte ich ihm am liebsten auch gesagt. Daß es mir genau so geht wie ihm. Aber es ging nicht. Irgendwas in mir hielt mich davon ab, ihm alles zu sagen. Ich guckte ihn unauffällig an, was sehr gut funktionierte, weil Jonas sowieso immer in andere Richtungen guckte. Vielleicht sah er gar nicht so schlecht aus, vielleicht, wenn er sich diesen schrecklichen Schamhaarbart abrasieren würde, der bei den Jungs in der oberen Stufe so angesagt ist und total scheußlich aussieht. Jonas lacht nicht, Jonas grinst nicht, er macht eigentlich die ganze Zeit einen total genervten Eindruck. Vielleicht hat er es schon zu vielen Leuten erzählen müssen, zu viele Fragen beantworten müssen. Ist vielleicht viel zu oft blöde angemacht worden. Aber ich mußte ihn einfach weiter fragen: "Und wie ist es jetzt so? Ich meine, was sagen die anderen Leute?"
"Oh, es ist einfach toll. Von meinen Freunden, oder nein, von meinen früheren sogenannten Freunden, will mich der größte Teil nicht mal mehr kennen. Hast du eine Ahnung, wie das ist? Kannst du dir vorstellen, wie das ist, wenn die meisten Leute beim Sport aus der Dusche rausgehen, wenn du reinkommst?"
"Shit."
"Ok, ein paar wirklich gute Freunde sind geblieben. Ganze drei Typen. Aber vielleicht reicht das ja, wenn man weiß, wer wirklich die Kumpels sind, die zu einem halten."
Seine Stimme war traurig geworden. Plötzlich drehte er sich zu mir um und sah mir direkt in die Augen: "Warum willst du das alles wissen? Ist das wirklich so spannend für euch Heteros? Habt ihr nicht eure eigenen Probleme? Oder bist du am Ende vielleicht auch schwul?"
Ich hielt seinem Blick stand. Irgendwie schaffte ich es, ihm weiter direkt in die Augen zu blicken, während es in meinem Kopf fieberhaft arbeitete. Was nur antworten? Wenn ich ihm sage, daß ich auch schwul bin, dann weiß es morgen die ganze Schule. Aber sollte ich ihn anlügen? Irgendwie bin ich der Meinung, daß er es verdient hat, daß ich ehrlich zu ihm bin.

Es war Jonas, der mir die Entscheidung abnahm: "Ach was, Scheiß drauf. Ich muß jetzt los." Er griff seinen Rucksack und verschwand.

Ich fühle mich seltsam. Und unehrlich. Ich hätte es ihm sagen können. Daß ich mich genauso fühle wie er, daß ich nicht länger dieses Theater- und Versteckspielen abkann. Daß es mich einfach nur noch ankotzt, wie die anderen nur darüber reden, wer welches Mädel wie flachlegt, daß sie sich benehmen wie hirnlose Zombies im Kindergartenalter, wenn ein halbwegs attraktives Mädel im Raum ist. Ich hätte ihn so gerne gefragt, ob es seine Eltern wissen. Alles das habe ich mich nicht getraut. Ich war zu feige. Wieder mal war ich zu feige.

Ich habe Nils nichts von meinem Gespräch mit Jonas erzählt. Ich weiß nicht, ob das richtig oder falsch ist. Aber mir gehen so viele Sachen durch den Kopf. Ich habe es noch nicht gepackt.

Sonntag, 16. November 1997

16. November

"Komm, mach dich mal locker."
"Ich bin locker, aber ich habe jetzt echt keinen Bock auf 'ne Jolle."
Warum Max immer allen Leuten sein Dope andrehen will. Ich habe im Moment echt keinen Bock auf das Zeugs. Vor allem weil ich mich danach nie mehr so richtig daran erinnern kann, was passiert ist. Max hat mich echt eine halbe Stunde vollgelabert, daß Bier und Alk ja viel, viel schlimmer sind als sein Zeugs. Aber davon dröhnt mir wenigstens nicht der Schädel. Zum Glück hatte Flo die sagenhafte Idee, eine Cocktailbar zu machen. Und er hatte natürlich die absoluten Hammer gemixt: Zombie und Highlander. Von jedem einen und es drehte sich alles um mich herum. Vielleicht hat Max ja recht, daß Alk viel schlimmer ist. Aber irgendwie schmeckt er auch dafür viel geiler.
Ich habe ja eigentlich gedacht, daß nur die Jungs aus dem Verein kommen. Aber Flo hatte auch etliche Mädels eingeladen. Und irgendwie hat das dazu geführt, daß die meistens Jungs wieder total abgedreht sind. Ich meine, so alleine und einzeln sind die Jungs ja ok, und die Mädchen auch. Aber sobald man sie zusammentut gibt es die beklopptesten Effekte. Meistens, habe ich den Eindruck, daß die Jungs auf Grundschul-Level zurückfallen und die Mädels nichts anderes mehr machen können als kichern. Eigentlich finde ich es ja dann immer ganz witzig, wenn ich halbwegs nüchtern bin, um mitzukriegen, wer sich wie und womit blamiert. Aber diesmal war ich einfach zu besoffen. Aber ich war zum Glück nicht alleine so breit. Nils saß neben mir und schaukelte nur noch im Takt von Inner Circle hin und her. Ich wollte ihn eigentlich so gerne in den Arm nehmen und küssen, weil ja alle um uns herum auch beim Baggern und Knutschen waren. Aber so breit war ich dann doch nicht, daß ich das gebracht hätte. Na jedenfalls hat Kevin das halbe Bad vollgekotzt, was Flo zum totalen Ausrasten gebracht hat und damit war die Party zu Ende.
"Bad Boys, bad boys", summte Nils vor sich hin, während wir die Straße langschlingerten.
"Laß uns noch in die Tofa gehen, ich hab Bock zum Tanzen."
"Es ist halb zwei, da lassen die uns nicht mehr in die Tofa. Und in DEM Zustand erst recht nicht."
Ich weiß ja auch nicht, die frische Luft hatte mich wieder nüchtern gemacht. Nein, nicht nüchtern, wenn ich ein gewisses Level an Alk erreicht habe werde ich wieder vernünftig, glaube ich.
"Dann laß uns jetzt Sex haben, ich habe Lust auf dich."
"Na klar, hier mitten auf der Friedrichstraße. Wir landen im Knast und morgen weiß ganz Bergbach über uns Bescheid."
Nils gab mir einen langen Kuß und ich merkte, wie ich einen Ständer bekam. Ich zog ihn ins Pförtnerhaus der stillgelegten Schraubendreherei. Was habe ich eben mit dem 'vernünftig' geschrieben? Aber wir waren beide so geil aufeinander, daß wir trotz des hohen Alk-Levels ziemlich schnell kamen. Was für ein Wahnsinn!
Ich wollte ihn gar nicht mehr gehen lassen. Aber irgendwann taperte ich dann den Rest meines Weges nach Hause. Wenn ich erst einen Führerschein habe ist Schluß mit dem Alk. Jedenfalls mit so viel.

Sonntagnachmittag. Ich müßte eigentlich an meinem Deutsch-Referat arbeiten, aber ich habe keinen Bock. Ich rufe Nils an, dem die ganze Geschichte von gestern ziemlich peinlich ist, was ich nun wieder total witzig finde. Telefoniere mit Doris, die beleidigt ist, weil ich sie nicht mitgenommen habe zu Flos Party. Ich gebe zu, daß ich gar nicht da dran gedacht habe, sie anzurufen.

Ach ja, ich habe gestern meinen Kampf gewonnen. Zwar nur knapp mit einem Punkt Vorsprung, aber immerhin. Und ich glaube, ich war nicht mal schlecht. "Nicht wirklich schlecht", wie Nils sagte. Dieser kleine Penner. Aber ein lieber Penner.

Samstag, 15. November 1997

15. November

"Hey, das wird bestimmt total abgefahren. Also heute nach dem Wettkampf hole ich die Party nach."
Flo ist schon verrückt. Jetzt holt er die Party nach, die er vor zwei Wochen wegen seiner Rippe nicht machen konnte. Und das, obwohl er immer noch nicht ganz fit ist. Aber er meint, zum Partymachen reicht's.
Mir geht's zum Glück heikomäßig wieder normal. Heißt jetzt nicht, daß ich ihn vergessen habe, aber ich muß nicht mehr ständig an ihn denken und habe den Kopf auch mal für ein paar Stunden frei.

Heute ist Heimkampf. Ich bin nicht aufgeregt und ich merke wie es mir immer gleichgültiger wird. Ok, ich werde schon versuchen zu gewinnen. Hoffentlich wird das irgendwann mal besser.

Freitag, 14. November 1997

14. November

"Wir machen am Wochenende vor Weihnachten ein Skill-Weekend für alle Leistungskurse."
Ich wußte nicht, was ein Skill-Weekend ist. Jetzt weiß ich es. Klingt ziemlich öde. Ein verlängertes Wochenende in irgendeiner Art Jugendherberge in Waiblingen. Da sollen wir lernen, wie man richtig lernt und dann das, was man gelernt hat, präsentiert. Na toll, das heißt Freitag, Samstag und Sonntag durchpauken. Drei Tage Mathe und Französisch am Stück. Und dann noch solche Sachen wie Lerntheorie, echt daneben.
Nils findet die Idee ganz toll: "Wird doch bestimmt cool, jeden Abend Party."
"Das ist ein Lernwochenende und kein Party-Weekend!"
"Abends lernt doch keiner mehr."
"Wow, jeden Abend Party mit Cola und Wasser, total aufregend. Du glaubst doch wohl nicht, daß wir da Bier kriegen oder mitbringen dürfen."
"Das paßt schon, keine Sorge. Auf Sylt hat's auch geklappt."
"Ich wäre lieber die drei Tage mit dir alleine, als mit den ganzen anderen Spacken da rumzuhängen."
"Ach komm, das wird bestimmt ganz witzig."
Na gut, ich habe beschlossen, daß ich mich einfach mal überraschen lasse, was bei dem Skill-Weekend (wer hat sich eigentlich diesen bekloppten Namen einfallen lassen?) rauskommt.

Irgendwie scheint Nils gemerkt zu haben, daß ich im Moment nicht ganz so gut drauf bin. Er war heute den ganzen Tag total lieb zu mir. Keine Sticheleien. Wir waren im Kino und hinterher noch bei McDo und weil wir dann immer noch keine Lust hatten, nach Hause zu gehen, sind wir noch in die Alte Schmiede getapert. So nach dem vierten Bier fing Nils an, über Jonas und sein Coming Out zu reden: "Ganz schön mutig der Typ."
"Ja, mutig, aber vielleicht auch verrückt", wandte ich ein.
"Ja stimmt schon, ich würde mich das nie trauen. Ich meine, wenn ich an meine Eltern denke. Und stell' dir doch mal die Jungs bei uns im Verein vor: Kevin, Flo, Silvio und die anderen."
Ich stelle mir das lieber nicht vor. Wobei ich nicht weiß, ob Flo nicht schon irgendwas ahnt. Seine komischen Fragen und Andeutungen sind schon merkwürdig. Aber das sage ich Nils lieber nicht, weil er dann bestimmt wieder total panisch reagiert. Doch dann sagte er etwas, was mich total erstaunte: "Aber vielleicht geht es ihm ja auch total gut damit. Er braucht sich wirklich nicht mehr zu verstecken."
Ich guckte ihn verwundert an: "Das ist mir auch durch den Kopf gegangen. Muß schon ein ziemlich cooles Gefühl sein. Aber ob es das Wert ist? Ich meine den Stress mit den Anderen?"
Nils schüttelte den Kopf: "Ich glaube nicht."
"Ich würde ihn gerne mal fragen, wie das so ist."
"Nein, mach das bloß nicht. Dann kriegt er noch mit, daß wir auch schwul sind und morgen weiß es die ganze Schule."
"Schon klar. Natürlich mache ich es nicht."

Wir taperten reichlich bebiert nach Hause, eine unendliche Umarmung, ein unendlicher Kuß. Wer muß sich denn vor anderen outen, wenn man einen Freund hat?

Donnerstag, 13. November 1997

13. November

"Hast du schon von Jonas gehört?"
"Nee, wer ist denn Jonas?"
Ich kam gerade aus dem Französisch-Kursraum als mir Doris ganz aufgeregt auf dem Gang entgegenkam.
"Jonas ist aus dem Jahrgang über uns und er hat sich gestern in GK geoutet."
"Wie geoutet?"
Ich glaube meine Frage war reichlich blöd, aber ich bekam das alles nicht so schnell auf die Reihe.
"Sie haben über Minderheiten und Diskriminierung gesprochen und alle im Kurs haben so scheiß-liberal getan und dann ist er wohl aufgestanden und hat gesagt, daß sie ja dann bestimmt auch keine Probleme damit haben, daß er schwul ist."
"Total bekloppt. Das ist doch Wahnsinn. Und? Wie haben sie reagiert?"
"Sie haben es ihm wohl erst gar nicht geglaubt, aber als sie gemerkt haben, daß er keine Witze macht, war erst mal eine Minute Schweigen."
"Und weiter?"
"Keine Ahnung. Sooo genau sind meine Infos ja nun auch nicht."
Das ist doch wirklich absoluter Wahnsinn. Sich vor dem ganzen Kurs zu outen und natürlich ist es jetzt in der gesamten Schule rum. Ich würde ihn ja am liebsten fragen, warum er das gemacht hat.
Wir waren inzwischen auf dem Hof angekommen, als Nils auf uns zukam: "Habt ihr schon gehört?"
"Ja", tönten Doris und ich im Chor.
"Das ist doch verrückt so was. Der ist doch jetzt überall unten durch."
"So ganz wohl doch nicht", meinte Doris und zeigte auf eine Gruppe von Leuten aus dem Jahrgang über uns, "er lebt noch und reden tun sie auch noch mit ihm."
Das war also Jonas. Und ich hatte wirklich Lust, zu ihm hinzugehen und mit ihm zu reden. Ich wollte ihn so viele Sachen fragen, aber ich traute mich natürlich nicht. Vor allem wäre Nils total ausgerastet. So nach dem Motto, wenn man Jonas und mich zusammen sieht, denken alle Leute sofort, daß ich schwul bin. So ein bißchen beneide ich ihn aber auch. Jetzt braucht er sich nicht mehr zu verstecken, kein Theater mehr zu spielen. Aber wie haben die anderen reagiert?
Während des Tages und während des Trainings ging es mir durch den Kopf, wie es ist, wenn wirklich alle Bescheid wissen. Wie man sich fühlt. Bestimmt ist es auf der einen Seite total toll, wenn man sich nicht mehr verstellen braucht. Aber wenn die Anderen eben Streß machen und nicht mehr mit einem reden, dann ist doch sowieso alles für'n Arsch. Irgendwie stimmt es ja schon, daß mir ja eigentlich nichts passieren kann, aber wenn keiner mehr was mit mir zu tun haben will, ist das krass genug. Ich glaube, nein ich bin mir ziemlich sicher, daß ich mich vor dem Abi bestimmt nicht hier outen werde. An der Uni, ja, da vielleicht. Es ist bestimmt viel leichter, wenn man irgendwo ganz neu anfängt und gleich am Anfang reinen Tisch macht.
Irgendwie finde ich die Idee ja witzig, es allen nach dem Abi auf der Abifete zu sagen. So als Schluß-Highlight. Naja, das bringe ich ja sowieso nicht. Aber witzig wäre es schon.

Mittwoch, 12. November 1997

12. November

"Was ist los?"
"Ich weiß nicht. Ich bin wieder total neben mir."
"Willst du etwa sagen, daß du immer noch an diesem komischen Traum denkst?"
"Ja doch."
"Tim, du bist krank. Das ist doch echt nicht wahr. Andere Leute sind alkoholsüchtig oder drogensüchtig. Du bist anscheinend heikosüchtig."
"Ich war ja schon fast drüber hinweg und dann dieser bescheuerte Traum."
"Ich will nichts mehr über ihn hören. Von mir aus rede mit Nils darüber oder mit weiß ich noch wem. Aber ich will den Namen Heiko nicht mehr hören."
"Ok, ist ja schon gut. Themawechsel."
Wir redeten über irgendwelches Zeugs aber ich war mit den Gedanken immer noch ganz woanders. Wenn ich mir diesen Traum durch den Kopf gehen lasse, dann scheint mir alles immer mehr zu stimmen. Ich habe Heiko eigentlich bisher nie traurig gesehen, nie nachdenklich. Wir hatten Sex miteinander, es war wirklich toll und ich würde sonstwas tun, um es immer wieder zu erleben. Aber alles andere? Ich habe zwar mit Heiko geredet. Aber so richtig, so richtig über meine Gefühle und vor allem über SEINE Gefühle haben wir nicht geredet. Wenn ich mir das jetzt so überlege hat es Heiko total perfekt hingebogen. Er war so cool, er hatte alles im Griff. Und eigentlich hatte ich keine Chance ihm wirklich zu sagen, was ich fühle, wie es mir geht. Ach Scheiße, was soll denn das alles? Vielleicht hat Doris ja recht. Und vielleicht ist es ja auch ganz gut so, daß er nicht wirklich irgendwelche Gefühle zeigt. Ich frage mich nur, wie das zwischen ihm und Matthes läuft, denn ich glaube, daß er ihm gegenüber auch nichts richtig zeigt. Tim ist heikosüchtig, meint Doris. Ich weiß es nicht. Ich glaube etwas Anderes inzwischen viel mehr: Ich glaube, daß wenn ich eine Woche, zwei Wochen, drei Wochen, einen Monat, jeden Tag mit Heiko zusammen wäre, daß dann der Zauber verschwunden wäre.
Ich schiebe die Gedanken an Heiko beiseite. Denke an das Turnier vom Wochenende und überlege, woher es kommt, daß ich eigentlich nicht mehr so doll motiviert bin. Daß ich nicht mehr unbedingt gewinnen will. Vielleicht ist es wirklich besser, daß ich mit dem Ringen aufhöre. Aber was mache ich dann? Nils würde mir das nie verzeihen. Und irgendwie glaube ich, daß mir etwas fehlen würde.

Dienstag, 11. November 1997

11. November

"Muß ich dir etwa wirklich sagen, was das bedeutet?", fragte Doris. Ich hatte ihr von meinem Traum erzählt. Ich mußte es ihr einfach erzählen, die Bilder ließen mich den ganzen Tag nicht mehr los.
"JA, verdammt noch mal, ja!"
"Vielleicht sagt dir dein Traum ja das, was du in deinem tiefsten Inneren schon längst weißt?"
"Wie? Soll das etwa bedeuten, daß ich nichts für Heiko empfinde?"
"Nein, soll es nicht. Ich glaube schon, daß du ihn wirklich liebst. Aber vielleicht ist ja dein Unterbewußtsein realistischer als dein Verstand und deine Gefühle."
"Wow, sagenhaft, toll, so ein Schmarren."
"Wenn du glaubst, daß das alles Schmarren ist, dann frag mich nicht nach meiner Meinung. Aber das, was du mir bisher von Heiko erzählt hast, und das was ich von Nils weiß, das paßt da alles wunderbar zu deinem Traum. Es ist genau DAS Bild was ich von Heiko habe."
"Er ist nicht so, er ist nicht so kalt und gefühllos, er ist, er ist..."
"Ich habe nichts von kalt und gefühllos gesagt. Vielleicht zeigt er seine Gefühle einfach nicht. Vielleicht WILL er sie nicht zeigen, weil er dadurch angreifbar, verletzlich wird. Aber es bringt echt nichts, wenn wir jetzt weiter an deinem Traum rumdeuteln. Ich habe dir gesagt, was ich glaube und Ende, Schluß. Wenn du anderer Meinung bist, bitte."
Damit ließ sie mich stehen und taperte in Richtung Glasbrücke. Ich will nicht glauben, was sie mir da eben gesagt hat. Ich will nicht glauben, was ich heute Nacht geträumt habe. Aber was will ich?
"Denkst du, du wirst je auch nur eine einzige wirklich romantische Stunde mit Heiko verbringen?"

Ich hatte heute Nacht einen total komischen Traum. Ich lief am Strand entlang, irgendwo auf Sylt und war einen Moment später am Kochertalweg. Überall waren Kerzen und es war eine total schöne Stimmung. Es war alles so warm und gemütlich. Und da war Heiko. Die ganze Sache war so perfekt, ich wollte ihn einfach nur in den Arm nehmen. Da stand wirklich Heiko, mit seinem typischen Lächeln und ich wollte auf ihn zugehen, doch irgendwie funktionierte das nicht. Und er rührte sich nicht von der Stelle, lächelte und redete irgendwas, was ich nicht verstand. Und plötzlich standen da Doris und Matthes vor mir.
"Denkst du, du wirst je auch nur eine einzige wirklich romantische Stunde mit Heiko verbringen?", fragte mich Matthes mit einem spöttischen Gesichtsausdruck, doch ich merkte, daß er eigentlich total traurig war. "Du wirst nie mit ihm irgendwo romantisch bei Kerzenschein sitzen, mit ihm kuscheln, du wirst ihn nie küssen und so glücklich sein wie mit Nils. Er wird dich nie in den Arm nehmen und dich trösten, wenn du traurig bist. Und du wirst ihn auch nie trösten dürfen. Du wirst nie zusammen mit ihm träumen. Er wird dir nie sagen 'Ich liebe dich'. Ihr könnt euch noch so viele Sonnenuntergänge ansehen, er wird nie sagen, daß er es schön findet."
Ich wollte Matthes fragen, woher er das alles wußte und wieso er sich in mein Leben einmischte, aber ich fand keine Worte. Verdammt noch mal, war es nicht Heiko gewesen, der die Sache mit der Halle in Leipzig vorbereitet hatte? Nur um mit mir zusammen zu sein.
"Er wollte Sex", sagte Doris. "Verstehst du das nicht? War das etwa romantisch für dich? War das Liebe, war das Zärtlichkeit? Ihr wart beide geil und wolltet Sex, das war alles. Mehr nicht."
"Ja, ja, ja, verdammt noch mal ja! Und? Was ist daran so schlimm?"
Plötzlich war ich wieder am Strand, es war dunkel, das Meer rauschte und es war kalt. Nils war bei mir. Ich fing an zu rennen, wollte zu Heiko, irgendwo mußte er doch sein, ich hatte ihn eben doch noch gesehen. Auf einmal rannte ich durch Straßen, die ich noch nie gesehen hatte. Und dann wachte ich auf.
Was für ein verrückter Traum. Aber mir gingen die Sätze, die Matthes gesagt hatte, nicht mehr aus dem Kopf. Und je mehr ich darüber nachdenke...oh Shit. Nicht schon wieder so ein Traum, der mich die ganzen nächsten Tage völlig fertig macht. Wieso träume ich so einen Scheiß? Was hat Matthes in meinem Traum zu suchen?

Montag, 10. November 1997

10. November

"Herzlichen Glückwunsch!"
"Was?" "Na, ich wollte nur mal kurz gratulieren, immerhin hast du gestern zwei Fights gewonnen."
Es dauerte einen Moment, bis ich wach war und mitkriegte, WER da am Telefon war. Ich schaute auf die Uhr: 6.30!!!
"Heiko?"
"Ja, wer sonst? Ich wollte, wie gesagt, nur kurz gratulieren. Ich muß jetzt los, zur Schule. Bess demnähx."
Und schwupps hatte er aufgelegt. In meinem Kopf war wieder Fahrstuhl angesagt. Wieso ruft Heiko früh am Morgen an um mir zu gratulieren? Vor allem wozu denn? Für zwei knapp gewonnene Kämpfe? Das war lächerlich. Aber das verrückteste: Woher WEISS er es? Woher weiß Heiko, wie ich abgeschnitten habe? Es war tatsächlich kein Einziger aus Köln dabei, obwohl eigentlich ein paar Leute kommen sollten. Die Sache ist absolut strange. Woher weiß er Bescheid? Und dann dieser Spruch "Wer sonst?" Ich könnte ihn erwürgen dafür! Und gleichzeitig nicht, weil es so zu ihm paßt.

Ich beschließe joggen zu gehen, weil ich sowieso nicht mehr einschlafen kann. Bergbach am Morgen im Herbst. Es paßt nicht. Herbst paßt nicht zu Bergbach. Herbst paßt zu Hamburg, zum Hafen. Aber Regen, graue Wolken und Nebel passen nicht in diese schwäbische Musterstadt. Ich laufe und es gelingt mir, an nichts zu denken.

Wieder zu Hause unter der Dusche geht mir Heikos Anruf wieder durch den Kopf. Ich wünschte, ich könnte mit jemandem darüber reden. Aber mit wem? Mit Nils nun bestimmt nicht. Und Doris will ich damit eh nicht immer nerven. Also werde ich es wieder mal für mich behalten.

"Ich habe mit meinen Eltern geredet. Es geht ok, mit Weihnachten und Sylvester."
"Echt?"
"Ja, wir hatten einen Deal, schon vergessen?"
"Nein, aber ich hätte nicht gedacht, daß das so fix geht."
Nils hatte also schon mit seinen Eltern geredet und ihnen gesagt, daß er über Weihnachten und Neujahr mit mir nach Hamburg fährt. Ich freue mich. Wirklich. Aber ich bin eben auch total übergerascht, wie schnell und easy das Ganze für ihn ablief.
"Was hast du ihnen gesagt?"
"Daß ich mit einem Kumpel nach Hamburg fahre."
Mit einem Kumpel. Aber was hätte er auch sonst sagen sollen? Daß er mit seinem Freund, mit seinem Tim nach Hamburg fährt? Wohl nicht. Also, jetzt war ich dran. Ich werde heute abend mal mit Mom und Dad reden, wie sie das planen mit Weihnachten und Sylvester.

"Tassi hat mich Sylvester eingeladen. Wir fahren doch dieses Jahr bestimmt wieder hoch, oder?"
"Nein, Oma kommt doch zu uns. Da hat sie nicht die ganze Arbeit mit dem Kochen und Backen und dem ganzen Vorbereiten."
Wow, toll, super. Kann irgendwas in meinem Leben auch mal so laufen, wie ich mir das vorgestellt habe?
"Ich wollte Sylvester eigentlich auch mit ein paar Freunden in Hamburg feiern", meinte Phil. Ich schaute ihn an. Er verzog keine Miene, aber ich sah, wie er ganz innen drin grinste.
"Dann fahrt halt nach Hamburg. Es hätte mich ja auch gewundert, wenn wir mal EIN Sylvester wieder alle zusammen verbringen können. Ruft Oma an und fragt, ob ihr bei ihr im Haus unterkommen könnt."

"Hey, dafür gibt's eine Flasche Beck's wenn wir in Hamburg sind."
"Was denn, nur eine Flache? Ich dachte, ich kriege mindestens einen Kasten."
"Wieso willst DU denn nach Hamburg?"
"Ich will überall hin, nur nicht unbedingt Sylvester hier feiern. Und du? Kommt dein kleiner Freund mit?" "Jaaaaa, er kommt mit. Endlich kommt er mal mit."
Phil grinste: "Na, ich glaube, ich kenne da jemanden, der sich richtig doll freut."

Sonntag, 9. November 1997

9. November

"Cool, daß wir endlich auch mal gegeneinander ringen."
Ich fand das gar nicht so cool. Vor allem, weil es gleich der erste Kampf war, der gegen Benji ging. Und wie erwartet, war er ziemlich schnell zu Ende.
"Na, vielleicht sollten wir beide doch mal ein paar Trainingseinheiten machen."
Ich nehme an, das war Benjis Art, mir zu sagen, daß ich mich wie der absolute Voll-Depp angestellt hatte.

"Du hast verloren", meinte Nils trocken.
"Wow, super, danke, daß du mir das sagst, ich wäre niemals von alleine darauf gekommen."
"Und dann noch gegen diesen kleinen Spinner."
Ich guckte an die Decke und sagte zur Abwechslung einfach mal gar nichts. Irgendwie ist dieses Turnier so ein bißchen wie das in Leipzig. Aber ich bin lange nicht so aufgeregt. Vielleicht, weil nicht so viel Publikum da ist. Und bestimmt auch weil Heiko nicht da ist und ich hier nicht unbedingt gegen ihn gewinnen muß. Diesmal sind gleich komplette Mannschaften angereist und zum ersten Mal ist mir aufgefallen, daß ein paar wirklich niedliche Jungs dabei sind. Vor allem einer sah total niedlich aus und er war natürlich genau in der Mannschaft, wo mein nächster Gegner herkam. Nils hatte mich schon vorgewarnt, daß die Ringer aus Berlin saugut sind. Und das war mein Gegner auch. Der Kampf ging noch viel schneller vorbei als der gegen Benji. Nils wußte, daß er nichts zu sagen brauchte. Scheiß drauf, ich meine, was brauche ich irgendwelche Siege? Damit Nils mit mir Sylvester nach Hamburg kommt? Auf einmal war es mir wirklich egal. Wenn er es davon abhängig macht, ob ich gewinne oder nicht, dann kann ich echt drauf verzichten.
Ich hatte zwei Runden Pause und ging auf die Tribüne hoch zu Doris. "Wenn ich das richtig verstanden habe, hast du bisher verloren?"
"Toll, ja bitte, jetzt du auch noch. Ja, ich habe verloren."
"Mensch, bist du wieder aggressiv. Komm doch mal runter."
Es tat mir leid, ich wollte sie eigentlich gar nicht so anmotzen. Aber das war natürlich die total falsche Begrüßung, die sie gebracht hat. Lena fing an zu quäken und Doris schaukelte sie hin und her.
"Woran liegt es denn?"
"Keine Ahnung. Die anderen Jungs sind einfach zu gut."
"Ich dachte, du bist so ein Naturtalent. Mein Nils jedenfalls immer."
"Du unterhältst dich mit Nils über mich?" Ich war etwas, nein ziemlich, überrascht.
"Na klar, warum denn auch nicht?"
Bei dem Gedanken, daß sich Nils und Doris über mich unterhalten, wurde mir ganz komisch. Was haben die beiden zu bereden?
"Wäre es anders, wenn Heiko hier oben sitzt?"
"Keine Ahnung. Ich weiß es echt nicht. Ich glaube inzwischen, es wäre ihm egal. Es wäre ihm wirklich egal, ob ich gewinne oder verliere. Er würde es wenigstens sagen. Nein, er würde es nicht sagen, aber ich würde merken, daß es ihm egal ist. Oder glauben, daß es ihm egal ist."
"Ich habe nicht gefragt, was Heiko denkt oder fühlt, sondern ob es für DICH was ändern würde."
"Aber DAS ist es doch. Es ist ihm egal. Also warum soll ich ihn beeindrucken? Wieso sollte ich noch für IHN gewinnen?"
Ich wundere mich selbst darüber, daß ich das so gesagt habe. Irgendwie scheint wenigstens mein Verstand langsam zurückzukommen und die Dinge realistisch zu sehen. Aber ist es wirklich so?
"Wie lange dauert das noch, bis du über ihn hinweg bist?"
"Keine Ahnung, ich glaube es wird nie weggehen."
"Ach du Scheiße, na toll. Aber weißt du, was ich glaube? Es ist in dem Moment aus, wo Heiko zu dir kommen würde und sagt, daß er dich liebt. In dem Moment, wo er nach Bergbach oder sonstwohin kommt, um mit dir zusammenzuziehen. In dem Moment wo er immer da ist, wenn du ihn haben willst, wo ihr beide so viel Sex haben könnt wie DU willst, in dem Augenblick, wo er das macht, was du willst, wo ER hinter DIR herläuft. Ich glaube, in dem Moment ist es vorbei. In dem Moment verlierst du die Lust an ihm."
"Ich werde nie die Lust oder sonstwas an ihm verlieren", meinte ich trotzig und ging wieder hinunter. Doris' Worte hatten mich nachdenklich gemacht. Was ist, wenn sie recht hat? Ich schob den Gedanken beiseite. Mein nächster Kampf stand an. Und ich weiß nicht, woran es lag, ich gewann. Zwar nicht mit Schultersieg, aber immerhin mit vier Punkten Differenz. Mahmout ist ein cooler Coach. Er motzt nicht. Er erklärt ganz ruhig, was man falsch gemacht hat, was man beim nächsten Mal besser machen kann.
"Noch drei Kämpfe", meinte Nils. Shit noch drei Kämpfe. Wie sollte ich DAS durchstehen? Ich war jetzt schon fertig. Ich setzte mich an den Mattenrand und schaute Nils bei seinem Kampf zu. Er mußte gegen diesen niedlichen Jungen von Luftfahrt Berlin antreten...und verlor. Nils verlor seinen Kampf. Für eine Millisekunde war ich schadenfroh. Endlich hatte der große Nils, der unfehlbare Nils einen Kampf verloren. Aber im nächsten Moment tat es mir leid, daß ich solche Gedanken hatte. ER tat mir leid. Ich sah ihn, wie er von der Matte ging, sein Handtuch wütend in die Ecke warf. Ich ging zu ihm hin, wollte ihn in den Arm nehmen, ihn trösten, aber das ging natürlich nicht in der Halle. Der Berliner war der absolute Vollproll, jedenfalls was ich von ihm mitgekriegt habe. Dabei sah er so niedlich aus.
Nils taperte in die Kabine, ich hinter ihm her. Und plötzlich rastete er total aus, warf seine Wasserflasche gegen die Wand und schrie: "So eine Scheiße, ich hatte ihn schon fast auf der Schulter!"
Ich war total verwirrt, ich habe ihn schon lange nicht mehr so wütend und laut erlebt. Ich nahm ihn in den Arm und drückte ihn: "Hey, es ist ok. Das ist doch nur ein Kampf, den du verloren hast. Das nächste Mal gewinnst du wieder."
Nils stieß mich weg: "Toll, super. Das kann ich jetzt genau gebrauchen. Du hast nichts, aber auch gar nichts verstanden."
"Ich habe sehr gut verstanden, glaube ich. Ich bin vielleicht nicht der Super-Ringer. Ich sehe die ganze Sache vielleicht ein bissel lockerer. Aber vielleicht ist es genau das, was DIR fehlt. Hast du darüber mal nachgedacht? Du bist ja schon der reinste Psycho, wenn es ums Ringen geht!"
Das hatte ich gesagt! Ich hatte das tatsächlich gesagt. Es war mir so rausgerutscht. Und ich habe es bestimmt nicht so gemeint.
Nils guckte mich sehr lange an und mit jeder Sekunde wurde mir unwohler. Dann drehte er sich um und ging ohne ein Wort zu sagen raus. Na toll. Ich habe mal wieder meinen vorlauten Mund nicht halten können. Aber ich konnte nicht mehr darüber nachdenken, denn ich hörte, daß mein nächster Kampf aufgerufen wurde. Ich strengte mich an. Ich versuchte alles, was nur möglich war. Und schaffte es, daß er mich wenigstens nicht schulterte. Aber schließlich verlor ich trotzdem, aber immerhin nur mit einem Punkt Rückstand.
Ich entdeckte Flo, der sich mit Kevin unterhielt und taperte zu den beiden.
"Ist dir eigentlich klar, daß DU Schuld bist, daß ich mir jetzt den ganzen Sonntag hier um die Ohren schlagen darf?"
Flo grinste: "Warum soll ich der Einzige sein, dem die Knochen gebrochen werden?"
"Naja, Tim schlägt sich ganz wacker, für so einen Fischkopp."
Ich buffte Kevin in die Seite. Ich hatte schon ewig keine Anspielung mehr gehört, darüber, wo ich eigentlich herkomme. Irgendwie sind die Jungs schon cool. Ich guckte mich um. In der Hallenecke gegenüber saß Nils, den Kopf hatte er in seinen Armen vergraben. Was denkt er jetzt? Habe ich ihn wirklich so sehr damit getroffen? Ich ging vor die Tür. Draußen stand der niedliche Berliner mit einem Kumpel und rauchte. Und ich hatte recht: Es war der totale Vollproll. Das tröstete mich irgendwie. Daß ein Typ, der so niedlich aussieht dann doch so dusselig ist. Ich ging wieder rein, um mich aufzuwärmen. Nils saß immer noch in seiner Ecke. Ich hatte echt ein schlechtes Gewissen. Ich stöpselte mir meinen Walkman ein und hörte, wie passend, "Everybody hurts". Ich legte mich auf die Matte, schloß die Augen und schwebte davon. Ich weiß nicht, ob ich eingeschlafen war. Irgendwann rüttelte mich jemand an der Schulter. Ich machte die Augen auf. Es war Nils. "Du bist dran, dein nächster Kampf."
Ich versuchte, etwas in seinen Augen zu entdecken, aber es ging alles so schnell. Bergbach gegen Hallbergmoos. Und Bergbach gewann tatsächlich. Mir fiel mein Overkill, der Single Leg wieder ein. Und er klappte super gut. Tim Berger gewann seinen zweiten Kampf in diesem Turnier. Nils, wir fahren nach Hamburg. Keine Ausrede, kein Jammern. Wir fahren nach Hamburg. Zusammen!
Benji meinte, daß ich wohl jetzt erst so richtig in Fahrt komme. Ich sagte ihm, daß ich mir nicht sicher bin, daß es vielleicht ja doch Glück ist. Aber ich weiß, daß es eben kein Glück ist. Gegen so echte Cracks wie Benji oder den Typen aus Berlin habe ich Null Chance. Never ever. Wenn mir aber irgendein Zweit- oder Drittklasse-Ringer gegenübersteht und ich Glück habe, ja dann gewinne ich vielleicht auch mal. Oder wenn ich wütend bin. Oder wenn Heiko...verdammt! Schluß jetzt! Ok, meinen letzten Kampf habe ich dann wieder verloren, gegen einen Jungen aus Nürnberg. Aber immerhin, zwei Kämpfe gewonnen.
Nils gewann seine nächsten Kämpfe, aber das brachte uns auch nicht weiter. In der Gesamtwertung landeten wir irgendwo out in the middle of nowhere und die Jungs von Luftfahrt Berlin machten den Ersten.

Nils wartete auf dem Parkplatz auf mich. "Du machst auch nie mehr, als du wirklich mußt, was?"
"Wie meinst du das?"
"Na, zwei Kämpfe gewinnen, hatten wir ausgemacht."
"Ja und? Habe ich zwei Kämpfe gewonnen? Reicht dir das nicht? Bist du nicht zufrieden?"
Ich merkte, wie ich wieder aggressiv wurde.
"Doch, es paßt schon. Ich sag ja, genau so viel, wie du mußt."
"Hey, weißt du eigentlich, daß ich mich eigentlich bei dir entschuldigen wollte, wegen dem Satz von vorhin, der mit dem Psycho..."
"Hallo! Tim, hallo! Bleibt doch einfach mal locker." Nils kam auf mich zu, nahm mich einfach in den Arm und drückte mich. "Kleiner verrückter Tim. Manchmal, ganz manchmal hast du vielleicht ja sogar ein klein bissel Recht."

Samstag, 8. November 1997

8. November

"Daß du mal mit uns mitkommst zum Einkaufen..."
Warum eigentlich nicht? Wenn's schee macht. Oder wie das heißt. Familientag mit Einkauf in Stuttgart. Familie Berger tourt durchs Schwabenland. Hat auch gar nicht wehgetan. Hinterher waren wir im Alten Zollhaus essen. Dad kennt ja immer die tollsten Restaurants und sogar Lisa war total ruhig. Nee, was schreibe ich denn hier, sie ist ja eigentlich immer lieb. Außerdem ist sie ja kein Baby mehr.

Heute ist kein Wettkampf, weil morgen Regio-Turnier ist. Wenn ich daran denke, wird mir ganz anders. Das Ding hat zwar gar keine Bedeutung für die Liga, aber Nils hat natürlich so ein Trara drum aufgebaut, daß ich nur aufgeregt sein kann. Und dann noch gegen Benji antreten. So ein Crack, der auch sein ganzes Leben nichts anderes gemacht hat, als zu ringen.

Deshalb ist heute Abend "Weggehen" auch "verboten". Schließlich müssen wir frisch sein. Na toll. Gerade heute hätte ich aber Lust, irgendwas zu machen. Ich glaube ich würde sogar in die Tofa gehen. Nein, statt dessen sitze ich Zuhause, zappe mich durch's TV, schreibe Tagebuch, lese Lisa Gutenacht-Geschichten vor, schreibe einen verrückten Brief an Heiko, den ich gleich wieder zerreiße, zappe weiter und beschließe schließlich, daß ich das Ding morgen einfach auf mich zukommen lasse.

Freitag, 7. November 1997

7. November

"Ich sag' halt, wo ich wann bin, was ich mache und dann ist es ok."
"Na du sagst ihnen doch nicht alles."
"Natürlich nicht, aber ich sage eben schon Bescheid. Eltern sind eben so."
"Eltern sind eben so. Das klingt ja so, als hättest du schon einige hinter dir."
"Nein, laß mal, meine reichen mir völlig aus."
Nils und ich waren in der Schmiede, spielten Billard und verloren gegenseitig ein Löwenbräu nach dem anderen. Dann tauchte noch Max auf und dann war es völlig aus...ich weiß nicht mehr, wieviele Kleine Feiglinge ich getrunken habe. Auf jeden Fall durften wir nicht mehr Billard spielen und sind dann zurück getapert.
Ich habe jedenfalls heute Bescheid gesagt, bevor ich losgegangen bin, daß ich mit den Jungs vom Ringen unterwegs bin und daß es spät wird. Daß es nun doch nicht sooooo spät ist, weil ich total bedröhnt bin und schon vor Mitternacht zu Hause bin, kann ich jetzt auch nicht ändern.

Oh, Telefon...bestimmt Nils.

Nicht Nils. Heiko. Einfach so. Heiko am Telefon. Ich schwebe wieder mal irgendwo, gehe jedes Wort durch, was wir gesprochen haben, überlege wirklich, ob ich irgendwas Falsches gesagt habe. So ein WAHNSINN!!! Wieso glaube ich denn, ich habe was Falsches gesagt? Ich habe keinen Grund. Heiko plapperte einfach drauflos und ich hörte einfach zu. Ich muß nichts sagen. Ich kann einfach zuhören. Ich will einfach zuhören. Matthes ist mit seinen Fußballern irgendwo auf Tour. Am liebsten möchte ich Heiko fragen, wann wir uns wiedersehen. Aber ich weiß, daß ER die Frage stellen muß. Ich will sie nicht stellen, will nichts zugeben müssen...das würde so aussehen, als wenn ich ihm weiter hinterherlaufe. Dabei freue ich mich so, daß er anruft. Das ist so ein Zeichen, daß ich ihm nicht egal bin, daß er an mich denkt. Und das macht mich glücklich. Das klingt total blöd, 'glücklich', aber das ist so.
Ich habe ihm erzählt, daß ich am Sonntag beim Regioturnier mitmache. Er hat mir Glück gewünscht. Aber es klang nicht wirklich überzeugend. Das ist das Einzige, was ich etwas komisch gefunden habe. Wie beschreibe ich das denn? Ist Heiko irgendwann mal traurig? Freut er sich irgendwann mal richtig? Ist er irgendwann mal so richtig sauer? Interessiert ihn wirklich, wie es mir GEHT? Verdammt, was schreibe ich denn hier? Das ist total strange. Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto schräger wird es. Wenn Nils mir für einen Kampf Glück wünscht, dann weiß ich, daß er es wirklich so meint, daß er mit dabei ist. Ich glaube, Heiko hat noch nie irgendwas von irgendwelchen Gefühlen erzählt oder wirklich irgendwelche Gefühle gezeigt. Nein das stimmt so nicht. Wir können rumblödeln, lachen und auch ernst sein. Und wir verstehen uns bei vielen Sachen und auch beim Sex. Aber irgendwie glaube ich, daß ich immer nur an der Oberfläche bin. Er läßt mich nicht mehr sehen. Ist da noch was anderes, innen drin in Heiko, was ich nicht erkenne?

Shit, was mache ich denn hier? Nein, ich will jetzt nicht schon wieder ins Heiko-Fieber fallen! Zum Glück wirken irgendwie noch die Kleinen Feiglinge nach, oder das Bier. Löwenbräu ist SCHRECKLICH!

Donnerstag, 6. November 1997

6. November

"Und? Haben Mom und Dad mit dir gestern Abend gesprochen?"
"Ja. Ach und du hast davon gewußt?"
"Na klar. Sie haben mich ja gefragt, ob ich weiß, was du so machst, wenn du weg bist. Ob ich deine Freunde kenne, ob du trinkst oder Drogen nimmst und so weiter."
"Jeeez! Das ist doch alles nicht wahr! Was MACHE ich denn besonderes? Wieso muß ich unbedingt Drogen nehmen, nur weil ich keine Lust haben, am Sonntagmorgen mit der ganzen Familie den Frühstückstoast zu schmieren?"
"Hey, reg dich nicht bei mir auf. Ich hab dich ja verteidigt. Habe gesagt, daß du eben so viel mit dem Ringen beschäftigt bist und trainierst. Und daß sie sich keine Sorgen wegen Drogen zu machen brauchen, weil das ja nicht zusammengeht."
Ich fand es natürlich toll, daß Phil mich so in Schutz genommen hat. Aber auf der anderen Seite finde ich es gar nicht toll, daß das überhaupt erst nötig ist. Ob ich Drogen nehme...so ein Wahnsinn!
Phil meint, daß ich vielleicht einfach mehr erzählen soll, wo ich hingehe und was ich mache. Na toll. Soll ich etwas sagen, daß ich schwul bin und daß ich bei meinem Freund bin? Ok, naja, ich weiß ja was er meint. Das Blöde ist echt, daß Phil so ein totaler Mustersohn war. Er hat eigentlich fast immer gesagt, wo er hingeht, mit wem und wann er zurück kommt. Aber ich bin eben nicht Phil und ich will auch gar nicht so sein.
"Wie soll das erst werden, wenn ich ihnen irgendwann erzähle, daß ich schwul bin?"
"Um Gottes Willen bloß nicht. Das wäre das totale Desaster. Tim, laß das. Das bringt überhaupt nicht. Ich glaube, Mom und Dad rasten dann aus."
"Ich will aber nicht immer lügen müssen, ich will mich nicht immer für irgendwas entschuldigen müssen oder schämen. Verdammt noch mal, ich liebe einen Jungen. Ja und? Bin ich deswegen schlecht oder weniger wert?"
"Darum geht es doch nicht. Sie haben eben ein Bild von dir. Und zu diesem Bild gehört eben, daß du ein lieber netter Junge bist, der irgendwann eine kleine Freundin heiratet und Kinder kriegt."
"Für's Kinderkriegen bist du doch da."
Phil lachte. Dann wurde er wieder ernst: "Aber ich glaube nicht, daß es in ihrem Plan paßt, daß du schwul bist."
"Was soll denn das heißen...nicht in den Plan paßt? Ich habe meinen eigenen Plan. Das heißt, eigentlich hab' ich ihn nicht. Aber mich kotzt es echt an, daß alle Welt immer glaubt irgendwelche Pläne für mich machen zu wollen. Verdammt noch mal ICH will entscheiden, was ICH mache."
"Hast du dir eigentlich schon mal überlegt, was du für Nachteile hast, wenn die Leute erfahren, daß du schwul bist? Du kriegst doch keinen Job, wenn das jemand mitkriegt."
"Bis ich einen Job kriege, dauert das noch ewig. Da denke ich doch nicht jetzt dran."
Ich finde es ja wirklich nett, wenn sich Phil über solche Sachen Gedanken macht. Aber das ist doch auch MEIN Ding. Ich muß damit klarkommen. Es ist doch wirklich so, als wenn alle Welt mich an die Hand nehmen will und mir sagen will, wo ich lang gehen soll. Alle haben einen Plan, was mit mir passiert, passieren muß oder passieren könnte. Shit und es sind nicht nur Mom und Dad oder Phil. Es ist auch Nils, der glaubt, genau zu wissen, was für mich richtig ist. Ich frage mich echt, ob ich das noch bin, der hier die Entscheidungen trifft oder ob nicht schon längst alle möglichen anderen Leute sich was für mich ausgedacht haben. Mom und Dad wollen den lieben kleinen Tim, verheiratet und mit Kindern. Phil will das wahrscheinlich auch. Nils träumt immer noch davon, aus mir den großen, toll motivierten Ringer zu machen oder zumindest das ER es war, der es aus mir gemacht hat. Doris träumt davon, daß ich der liebe kleine schwule Tim bin, der immer nur für Nils da ist und nie fremdgeht. Und Heiko...Shit. Selbst Heiko hat Pläne für mich. Hatte Pläne für mich. Die Aktion in der Halle, total geplant. Aber das, verdammt noch mal, das ist endlich mal ein Plan, der total ok war. Der genau DAS war, was ich wollte. Na toll, und schon habe ich wieder Heiko im Kopf. Es ist echt kein Tag, wo ich nicht an ihn denken muß. Zwar nicht mehr so schlimm wie am Anfang, aber denken muß ich immer noch an ihn.

Mittwoch, 5. November 1997

5. November

"Wo kommst du denn jetzt her?"
"Na vom Training. Wie jeden Mittwoch."
"Ist dir eigentlich klar, daß du fast nur noch zum Wäschewechseln, manchmal zum Essen und zum Schlafen hier auftauchst?"
Oh, nein! Nicht schon wieder das! Wie ich das hasse. Aber das war heute noch viel schlimmer als sonst. Mom und Dad saßen im Eßzimmer, so als hätten sie auf mich gewartet. Naja, sie HABEN auf mich gewartet. Und dann ging es los. So von wegen, das kann so nicht weitergehen, ich würde mich viel zu viel rumtreiben, zu spät nach Hause kommen, sie wüßten nie genau, wo ich bin und so weiter. Das Schärfste war aber der Satz: "Wir haben nicht hier ein Haus gekauft, damit unser Sohn glaubt, das ist hier ein Hotel, wo er kommen und gehen kann wie er will."

Und dann ging es weiter, so nach dem Motto: Wir sind doch eine Familie und so weiter.
Ich saß da und kam gar nicht zu Wort. Als sie endlich fertig waren fiel mir nichts mehr ein als "Na und?"
Das löste dann wieder ein halbe Stunde Vorwürfe aus, sie brachten dann auch noch Phil ins Spiel, so nach dem Motto: Er ist älter und treibt sich trotzdem nicht so rum wie ich. Ich kam mir echt vor wie im falschen Film. Ich hörte nicht hin sondern überlegte mir ganz genau, was ich sagen wollte. Als sie endlich fertig waren, habe ich mit meinem Redeschwall begonnen. Ich habe Stück für Stück aufgezählt, daß ich gar nicht so oft weg bin, wie sie immer tun, daß schließlich meine anderen Leute bestimmt genau so viel nicht zu Hause sind und überhaupt, daß sie ja wohl nicht meckern können, so von wegen Noten und Schule. Das war überhaupt DAS Argument. Ich bin im Notendurchschnitt im letzten Zeugnis besser geworden als in Hamburg. Wenn DAS kein Beweis ist, daß das alles gar nicht so wild ist. Dann kam die Sache mit dem "Wir machen uns Sorgen, wenn du dich rumtreibst und wir nicht wissen, wo du bist."
Ich fing noch mal von vorne an, daß ich mich nicht rumtreibe und daß ich doch eigentlich immer vorher sage wo ich bin. Ok, ich sage nicht, wann ich wiederkomme. Aber was soll das auch? Soll ich wie in der Grundschule anrufen und fragen, ob ich eine halbe Stunde länger bleiben darf?
Ich weiß ja auch nicht, irgendwie denke ich, daß sie glauben, daß jetzt, wo wir dieses Haus hier haben und wo Phil zurück ist, daß wir jetzt alle auf glückliche Familie machen. Aber ich habe dazu keine Lust. Ich will keinen Sonntagsspaziergang mit der Rama-Familie, wo ich eine Rolle spielen muß und mir immer neue Entschuldigungen einfallen lassen muß, warum ich noch keine Freundin habe. Ich will lieber die Zeit mit meinen Leuten verbringen, mit Flo, mit Doris und natürlich mit Nils!

Naja, das ganze Gespräch hat am Ende gar nichts gebracht. Sie haben zwar gemeint, daß ich ihnen eben vorher sagen soll wo ich hingehe und wann ich wiederkomme, aber wie das funktionieren soll weiß ich auch nicht.

Dienstag, 4. November 1997

4. November

"Und? Schon aufgeregt wegen Sonntag?"
"Nee, nicht mehr als sonst."
"Aber das muß doch irgendwas Besonderes sein. Warum hast du mich denn eingeladen zuzugucken?"
"Einfach so, vielleicht motiviert mich das ein bißchen."
"Motiviert? Was ist denn los mit dir? Keine Lust mehr?"
"Ich weiß auch nicht. Eigentlich dachte ich ja, daß ich nicht ran muß am Sonntag. Aber jetzt, wo Flo sich die Rippe gebrochen hat kann er natürlich nicht und nun muß ich antreten."
"Und was ist daran so schlimm?"
"Ich weiß es nicht."
"Du bist komisch. Erst machst du diesen seltsamen Sport und jetzt hast du keine Lust mehr? Ich denke, Wettkämpfe gehören dazu?"
Doris hatte ja Recht. Ich verstehe es ja selbst nicht. "Wenn es dir keinen Spaß mehr macht, hör halt auf. Aber jammere nicht rum, oder mach' es nur weiter, weil Nils das so will."
"Ja, ich mache ja weiter. Und irgendwie will ich auch gewinnen. Vielleicht ist das nur 'ne Phase. Und, das Spannendste ist: Wenn ich zwei Kämpfe am Sonntag gewinne, kommt Nils zu Weihnachten und Neujahr mit nach Hamburg."
"Das glaubst du doch selbst nicht. Nie im Leben. Wie willst du das denn deinen Eltern beibringen? Wie will er das seinen Eltern beibringen?"
Ich dachte eigentlich, sie würde die Idee ganz cool finden. Mit so einer Reaktion hätte ich aber nun gar nicht gerechnet.
Aber wenn ich daran denke, fällt mir eine andere Sache ein: Was ist, wenn dieser Maik wieder auf der Sylvesterparty auftaucht und Nils ist dabei? Shit, daran habe ich ja noch gar nicht gedacht. Das gibt bestimmt einen Riesenterz, weil ich es ihm nicht erzählt habe. Ich glaube, ich muß dann vorher mal Tassi anrufen, ob Maik kommt.

Montag, 3. November 1997

3. November

"Wir machen einen Deal. Ich komme mit nach Hamburg, wenn du mindestens zwei Kämpfe am Sonntag gewinnst."
"Was ist denn das für ein Scheiß?"
"Na du brauchst doch was, was dich motiviert. Und da Heiko ja diesmal nicht dabei ist, brauchst du was anderes, was dich anspornt."
Ich guckte ihn an und auf einmal kam er mir vor wie Heiko. Nicht weil ER den Namen unbedingt erwähnen mußte. Nein, es war diese verfluchte Arroganz. Der Satz hätte genau so von Heiko kommen können. Woher nahm Nils diese Sicherheit, daß mir so viel daran liegt, daß er mitkommt? Ich hasse es, wenn ich so berechenbar bin, daß jemand genau merkt, was ich möchte, wo mir viel daran liegt und daß dieser jemand das dann auch noch ausnutzt. Und doch weiß ich ganz genau, daß ich nichts dagegen machen kann. Weil ich es ja eigentlich selber auch möchte.
Zwei Kämpfe muß ich gewinnen. Das MUSS ich schaffen und das werde ich schaffen. Ich weiß noch nicht einmal, wieviele Ansetzungen das sind. Ich weiß nur, daß wir wahrscheinlich sowieso kaum Chancen auf einen der vorderen Plätze haben werden. Also eigentlich ist es ja dann auch egal.

Dafür habe ich eine verrückte Sache gemacht. Ich habe Doris eingeladen, am Sonntag zuzugucken. Ich weiß ja auch nicht wieso, aber irgendwie glaube ich, daß mir das hilft. Ganz schön strange. Und um das alles noch ein Stück weiter zu treiben mache ich jetzt noch eine viel verrücktere Sache.

Ok, das war ein Schuß in den Ofen. Das heißt, es war kein Schuß in den Ofen, aber es hat nicht so geklappt, wie ich es mir eigentlich gedacht habe. Ich habe Benji angerufen und wollte ihn eigentlich auch zum Zugucken einladen. Aber Benji, ja Benji macht auch mit am Sonntag. Super. Und wir sind in der gleichen Gewichtsklasse. Na ganz toll. Da habe ich ja nun null Chancen, also einen Kampf kann ich schon mal abschreiben.

Ich merke, daß ich schon wieder in dieser Tretmühle drin bin. Tim soll gewinnen, Tim will gewinnen. Muß Tim gewinnen? Für eine Sekunde möchte ich Nils anrufen und ihm sagen, daß er sich seinen Wettkampf sonstwohin stecken kann. Daß es mir scheißegal ist, ob er nach Hamburg mitkommt oder nicht. Ich möchte Heiko anrufen und ihm sagen, daß mich seine verfluchte bornierte Selbstsicherheit ankotzt. Doch ich mache es nicht. Denn ich glaube, daß es genau das ist, was ich brauche. Ich brauche es, daß mich Nils mit dem Ringen so unter Druck setzt. Und es ist bei Heiko eben genau diese grinsende Arroganz, die mich so verrückt macht, aber die mich auch so unheimlich anzieht. Heiko ist nicht unnahbar. Aber es ist diese Spannung, ob etwas passiert und was passiert. Und irgendwie ist es dieses Gefühl, daß ich fast gar keinen Einfluß darauf habe, was mich auf der einen Seite so fertig macht, was es aber auf der anderen Seite auch so unheimlich spannend macht mit ihm. Scheiße, was schreibe ich denn hier alles zusammen? Eigentlich dachte ich ja, ich kriege wieder etwas Ordnung in meinen Kopf. Ok, die Ordnung ist in meinem Kopf schon drin, aber wenn ich das hier lese, dann ist da überhaupt keine Ordnung mehr. Mal sehen, vielleicht kriege ich das morgen noch mal anders aufgeschrieben. Jetzt gehe ich erst mal pennen.

Sonntag, 2. November 1997

2. November

"Vielleicht wärst du ja doch ein besserer Schwimmer als Ringer geworden."
"Ich durfte ja nicht. DU wolltest ja unbedingt einen Ringer aus mir machen."
"Ja und? Anders wären wir ja sonst wohl auch nie zusammengekommen."
"Als wenn du das vorher gewußt hättest. Außerdem habe ich beim Schwimmen mehr Jungs kennenglernt als beim Ringen. Also ich meine im Schwimmbad."
"Mit kennengelernt meinst du so was wie rumgemacht, oder wie?"
"Yo. Jedesmal wenn ich in der ASH war."
Nils schüttelte mit gespielter Entrüstung den Kopf. "Du bist unmöglich."
So sicher es in der ASH war, jemanden zu finden, so unmöglich war es hier. Aber ich wollte ja auch niemanden hier. Nur Nils. Und wir haben es dann wirklich auch in der Umkleide zusammen gemacht. Er fand es zwar etwas ungemütlich, glaube ich, aber ich fand es toll. Nach den ganzen Sessions mit irgendwelchen Typen, die gleich nach dem wir gekommen waren, verschwunden sind, war es toll, einfach jemanden bei mir zu haben, der bleibt.

"Tassi hat gefragt, ob ich Sylvester nach Hamburg komme."
"Hmmm."
"Willst du nicht mitkommen? Ich meine das ehrlich."
"Nach Hamburg? Was ist denn da?"
Die Frage überraschte mich, so daß ich erst mal überlegen mußte, was ich antworte.
"Da ist eine ganze Menge. Soll ich das jetzt alles aufzählen? Vor allem bin ICH da. Also ich WAR da. Ich komme von da. Ach Mensch, du weißt genau, was ich sagen will."
"Ich überlege es mir. Nein, wirklich, ich denke darüber nach. Ok?"
Verrückt! Nils will es sich überlegen. Er will es sich TATSÄCHLICH überlegen.

Samstag, 1. November 1997

1. November

"Hey komm, das ist doch nun nicht so wild."
"Ich will aber einfach nicht. Ich will einfach nur alleine sein heute Abend."
Ich hatte verloren und Nils hatte eine blöde Bemerkung gemacht. Wenn ich das jetzt schreibe, dann merke ich, daß es eigentlich gar nicht so schlimm war. Aber vorhin hat es mich einfach nur genervt und ich bin mit den anderen nicht zum Pizzabuffet mitgegangen. Statt dessen bin ich nach Hause getapert. Habe meine Kopfhörer aufgesetzt und will nichts hören. Ich weiß auch nicht genau, was mit mir los ist. Eigentlich habe ich keinen richtigen Grund, sauer zu sein. Oder down. Aber irgendwie geht es mir heute insgesamt nicht so gut. Ich habe saumäßig gekämpft, ohne Kraft, ohne mich wirklich einzusetzen. Ich weiß gar nicht, wie das in der nächsten Woche beim Regioturnier werden soll.

Ich schiebe die Gedanken beiseite und verbringe den Rest des Abends damit, mit Lisa zu spielen und ihr einer Tigerenten-Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen.
Ich versuche, mich daran zu erinnern, wie es war, als ich so alt war wie sie. Aber ich kriege es einfach nicht mehr zusammen. Da sind nur ein paar Fetzen aus der Zeit im Kindergarten. Alles andere ist eine graue, diffuse Masse irgendwo in der Vergangenheit. Das einzige, was ich weiß, ist, daß die Zeit schön war. Es floß einfach alles so vor sich hin. Ich kann mich an nichts erinnern, was wirklich traurig und schlimm war. Und jetzt mache ich mir um jeden Scheiß Gedanken. Zerbreche mir den Kopf, wälze Probleme hin und her. Schon bekloppt.

Nils hat gerade angerufen. Er wollte wissen, ob mit mir alles in Ordnung ist. Ich habe mich entschuldigt, daß ich so schnell abgehauen bin. Er hat erzählt, daß Flo beim Pizzabuffet dabei war. Ich mußte lachen. Verrückt, eine gebrochene Rippe, aber er kann es nicht lassen und tapert zum Pizzabuffet. Jedenfalls haben Nils und ich uns für morgen zum Schwimmen verabredet. Ich freue mich da drauf.