Dienstag, 30. April 1996

30. April

15:00
»Weißt du wo Tobias heute ist?« Ich hatte keine Ahnung und ehrlich gesagt bin ich ganz erleichtert, daß er nicht in der Schule gewesen ist, jedenfalls bin ich so um das Gespräch mit ihm herumgekommen oder wenigstens um die Frage, warum ich ihn nicht angerufen habe. Doris runzelte die Stirn und dann bekam sie den Koller. Sie meint, wir müßten mal in Ruhe über etwas reden. Ich weiß nicht, was die Leute im Moment haben, daß sie alle mit mir reden wollen. Wir haben uns für morgen verabredet. Ich bin ja mal gespannt was sie geheimnisvolles will.


18:10
Cool, Krafttraining. Anstrengend, aber es macht Spaß. Vor allem, wenn Nils mittrainiert, denn er sieht wirklich niedlich aus. Nein, niedlich ist vielleicht das falsche Wort, ich glaube, geil wäre irgendwie passender. Ich kann verstehen, warum alle Mädels auf ihn so fliegen. Wenn er lacht, lacht sein ganzes Gesicht, aber vor allem seine Augen. Und dann wieder kann er so ernst und, äh, ehrlich(?) gucken. Warum ist so einer denn ein Hetero? Blöde Frage, warum sind eigentlich alle niedlichen Jungs hetero? Nun ja, wir haben ziemlich viel rumgeblödelt, so daß ich gar nicht gemerkt habe, wie schnell die Zeit vergangen ist. Er hat mir erzählt, daß die Jungs aus der ersten und zweiten Mann-schaft dreimal in der Woche trainieren und zweimal im Kraftraum sind. Na ja, das wäre mir echt zu viel. Ich bin gespannt auf meinen Muskelkater. Jedenfalls will er mit mir nächste Woche Griffe üben. Ich bin echt gespannt.

Montag, 29. April 1996

29. April

14:00
»Lieber Tim, ich muß mit dir reden, bitte rufe mich an! Tobias«
Als ich nach der großen Pause mein Französisch-Buch aufmachte, habe ich den Zettel gefunden. Ich guckte zu Tobi. Er hatte mich beobachtet und gesehen, daß ich seinen Zettel gefunden habe. Dann guckte er schnell weg. Shit, was soll das denn jetzt? Was will er denn mit mir bereden? Will er, daß ich mich entschuldige, wegen Freitag? Sein rechtes Auge ist ein wenig blau, aber nicht schlimm. Vielleicht will er sich ja auch entschuldigen, daß er sich so bescheuert benommen hat in der letzten Zeit. Ich lese seinen Zettel immer und immer wieder und weiß nicht, was ich machen soll. Jetzt gehe ich erstmal zum Training.


20:30
Ich war richtig gut heute. Beim Ringen vergesse ich alles andere. Wir haben einen neuen Griff gelernt, und diesmal werde ich alles behalten. Langsam glaube ich, das System zu verstehen. Es hat wirklich was mit Hebelwirkung usw. zu tun. Morgen nachmittag treffe ich mich mit Nils im Kraftraum, und er will tatsächlich hinterher noch mit mir trainieren. Ich lese wieder den Zettel von Tobias. Was soll ich nur machen? Ich möchte so gerne mit ihm reden, aber ich habe Angst, was dann mit mir passiert. Bestimmt raste ich wieder aus und motze ihn an, dabei würde ich ihm doch viel lieber alles erzählen und ihn in den Arm nehmen. Ich habe versucht, Doris anzurufen, aber beim ersten Klingeln gleich wieder aufgelegt. Shit, was soll ich machen?

Sonntag, 28. April 1996

28. April

16:25
»Keine Widerrede, du kommst mit.«
Wir waren bei einem von Dads Kollegen zum Brunch. Es war nur ätzend. Er und Dad redeten permanent über die Firma. Seine Frau redete pausenlos auf Mom ein und beklagte sich, wie provinziell hier in Bergbach alles wäre. Ihre Sätze begannen immer mit: »Also wissen Sie, in München ...« Ich saß die ganze Zeit rum, zählte die Grashalme und sah Lisa beim Schaukeln zu. Seltsam, eine Familie ohne Kinder, warum haben sie dann eine Schaukel im Garten? Zwischendurch stopfte ich mir ein bißchen was von dem Essen rein. Jedenfalls kochen konnte sie. Auf der Rückfahrt fragte Dad, warum ich denn die ganze Zeit so still gewesen wäre. Ich zuckte nur mit den Schultern und überlegte mir, was sie wohl gesagt hätten, wenn ich meinen Freund (ja, wenn ich denn einen hätte) mit zum Brunch genommen hätte.

Gerade versucht, Doris anzurufen. Es geht niemand ans Telefon. Geht das eigentlich? Ein Bauernhof, wo niemand da ist?

Samstag, 27. April 1996

27. April

10:10
»Und du willst wirklich nicht mitkommen?«
Ich schüttelte den Kopf. Mom und Dad sind mit Lisa schon ganz früh nach Stuttgart zum Einkaufen gefahren. Ich will lieber hier bleiben und einfach mal nichts machen.


12:30
Ich versuche ein wenig Ordnung in meinen Kopf zu bekommen. Vielleicht geht es einfacher, wenn ich es aufschreibe:
Also, ich bin schwul, ich bin mir ziemlich sicher.
Warum bin ich schwul? Shit, ich weiß es nicht.
Und warum ausgerechnet ich?
Warum nicht Phil, Tobias oder Nils? Ich weiß es nicht.
Was ich weiß ist, daß ich auf andere Jungs abfahre. Wenn ich mir vorstelle, jemanden zu lieben, ist es ein anderer Junge, auch beim Sex.
Aber wie geht es denn weiter?
Eigentlich möchte ich einen Freund haben, zum Lieben, zum Knuddeln, zum Reden. Aber wie finde ich den? Hier ist es noch viel schlimmer als am GySue. Den einzigen anderen Schwulen, den ich hier kenne, der traut sich nicht mal mit mir zu reden, ganz abgesehen davon, daß er auch überhaupt nicht niedlich ist.
Warum ist denn das alles so schwer?
Warum habe ich das denn nur so schwer?

Und was passiert eigentlich, wenn ich tatsächlich jemanden finde? Phil hat seine Freundinnen immer ganz selbstverständlich zu Hause präsentiert. Das kann ich garantiert nicht machen. Ich glaube, Mom und Dad würden ausrasten. Also muß ich warten, bis ich eine eigene Wohnung habe? Shit, so viele Fragezeichen, irgendwie ist mein ganzes Leben ein einziges Fragezeichen. Ich glaube, ich gehe etwas spazieren.


16:40
Ich habe auf dem Weg geträumt, wie schön es wäre, mit einem Jungen durch die Gegend zu laufen, zu lachen, auf der Wiese zu liegen, ihm alles zu erzählen. Es war alles so real, die Sonne, das Gras. Es war fast so, als müßte ich nur die Hand ausstrecken, um ihn zu berühren. Irgendwie geben mir diese Träume Kraft. Ich habe gerade zurückgeblättert, ja, wie ist es mit meiner Inventur? Mir geht es eigentlich schon nicht schlecht, aber dann doch wieder, ich weiß es nicht. Viel klarer ist mir das alles noch nicht. Vielleicht denke ich ja auch zu viel nach.

Gerade hat Florian angerufen und mich für nächsten Freitag zur Party eingeladen. Ich hab zugesagt. Vielleicht frage ich ja Doris, ob sie mitkommt. Ich höre unseren Wagen in der Einfahrt.

Freitag, 26. April 1996

26. April

16:10
"Du Arsch!"
Shit, ich habe heute beim Sport Tobias einen Basketball voll an den Kopf geworfen. Ich wollte ihn gar nicht treffen, sondern eigentlich Max den Ball zuspielen. Tobias, dieser Depp mußte natürlich dazwischen rennen und bekam voll den Ball vors Gesicht. Er fiel einfach nach hinten über und blieb liegen. Ich bekam einen Heidenschreck. Zum Glück ist ihm wohl nichts passiert. Alfinger hat gleich seine Nase abgetastet und meine, es wäre nichts gebrochen. Dafür hat Tobias eine Riesen-Szene gemacht und mich angebrüllt, daß ich das mit Absicht gemacht habe und so. Ich dachte echt, er wollte auf mich losgehen, und hatte mir schon eine Abwehr überlegt (ha, ich bin Ringer). Aber dann stapfte er nur wütend in die Kabine und war für den Rest der Stunde verschwunden.

Nach der Schule rief gleich Doris an und wollte wissen, was denn zwischen Tobias und mir für ein Streß-Film läuft. Ich habe ihr gesagt, daß ich nicht weiß, was sie meint. Das mit dem Ball war wirklich keine Absicht. Und daß es mir trotzdem leid tut. Na ja, eigentlich schon.

Aber etwas Cooles ist heute trotzdem passiert: Ich habe keinen Muskelkater vom Training gestern. Cool.

Donnerstag, 25. April 1996

25. April

13:55
»Ich hab' gehört, du fängst jetzt an zu ringen?« Tobias stand vor mir. Ich hatte ihn erst gar nicht bemerkt, weil ich an meinem Walkman rumfummelte. Ich blickte auf und sah ihm direkt in die Augen. Zum ersten Mal seit diesen Tagen guckte ich ihm direkt ins Gesicht, und sofort hatte ich diesen Kloß im Hals. Ich schaffte es gerade noch trotzig »Ja und?« zu antworten.
»Wie bist du denn auf diese abartige Idee gekommen?« Er beantwortete sich die Frage gleich selber: »Na ja, ist ja auch kein Wunder, wenn du ständig mit Nils und den anderen Spinnern rumhängst.«
Mir platzte der Kragen. Tobias hat nun überhaupt kein Recht, hier irgendwie den Beleidigten zu spielen. Ich schrie ihn an, daß das ja wohl meine Sache ist, was ich mache und mit wem ich was unternehme und daß er ja wohl der letzte wäre, der hier von abartigen Ideen reden dürfte. Doris, die neben mir stand, zuckte richtig zusammen, als ich laut wurde. Tobias machte völlig verwirrt einen Schritt zurück. Zum Glück kam Falkenberg in dem Augenblick rein und Tobias trottete zurück an seinen Platz. Doris sah mich fragend an: »Was ist denn in dich gefahren?« zischelte sie. Ich zuckte nur mit den Schultern, was soll ich ihr denn erklären? Ich habe mitgekriegt, daß Tobias die ganze Stunde über immer wieder zu mir rüberguckte, aber ich habe nicht zurückgeschaut. Soll er doch mit seiner Ziege glücklich werden und mich in Ruhe lassen.

21:55
»Du stellst dich aber selten dämlich an«, hatte Dimitri gesagt. Leider hat er recht. Ich habe alles vom letzten Training vergessen. Shit, welcher Arm wohin, welches Bein wodurch. Ich kam mir vor wie der absolute Depp. Als ich Nils auf dem Heimweg davon erzählt habe, bot er mir an, daß wir ein paar Mal miteinander außer der Reihe trainieren sollten. »Damit du die Bewegungsabläufe und die Logik hinter den ganzen Sachen mitkriegst. Das geht irgendwann ganz automatisch.« Ich weiß nicht, ob er dieses Angebot ehrlich meint, aber vielleicht ist die Idee ja auch gar nicht so schlecht. Jedenfalls habe ich beschlossen, jeden Morgen und Abend Liegestütz und Situps zu machen. Wenn ich schon die Technik nicht so schnell mitkriege, dann kann ich das ja vielleicht durch Kraft ausgleichen.

Mittwoch, 24. April 1996

24. April

14:30
»Sehr schön.«
Finke hat uns heute die Mathe-Arbeiten zurückgegeben. Wow, ich habe die einzige Eins und mir geht es super. Und mit meinem Muskelkater geht es auch besser, eigentlich tun mir nur noch die Arme weh. Gleich treffe ich mich mit Doris. Sie sagt, sie will unbedingt neue Klamotten einkaufen gehen, und ich soll mitkommen. Eigentlich hasse ich es, shoppen zu gehen, aber mit Doris wird es bestimmt ganz lustig.

Puh, ich wußte gar nicht, was es alles für Läden in Bergbach gibt. Doris hat mich durch mindestens acht verschiedene Klamottengeschäfte geschleift. Na ja, über ihren Geschmack will ich gar nicht weiter nachdenken. Sie hat genau die Sachen gekauft, bei denen ich am meisten den Kopf geschüttelt habe. Jetzt läuft sie bestimmt mit diesen grünen Pumphosen durch die Schule, wie peinlich. Hinterher waren wir noch Eis essen. Es war richtig schön, die Sonne war warm, und wir haben uns über alles mögliche unterhalten. Ich habe sie richtig gerne. Schade, daß sie ein Mädchen ist.

Dienstag, 23. April 1996

23. April

13:55
Hast du dich etwa schon beim ersten Training verletzt?« hat Doris gefragt. Sehr witzig, ich war froh, daß ich es bis zu meinem Stuhl geschafft hatte. Seit ich heute morgen wach geworden bin, kann ich mich kaum bewegen. Vielleicht habe ich mir tatsächlich irgendwas gebrochen. Nur was? Mir tut einfach alles weh, und ich kann mich nur noch in Zeitlupe bewegen. Warum war es denn letztes Mal nicht so? O.k., das Training gestern war wirklich heftig. Wenn das jedesmal hinterher so ist, halt ich das nicht lange durch.

Zu allem Unglück haute mir Nils noch mit voller Wucht auf die Schulter: »Na, wie geht's dir heute?« Ich schrie auf. Ich hätte ihn erwürgen können.
»Das gibt sich«, meinte er, »nach zwei, drei Wochen merkst du nichts mehr.«
Na toll.
»Dann kommst du wohl heute nicht mit in den Kraftraum, was?« Ich habe dankend abgelehnt, ich bin froh, daß ich es nach der Schule wieder nach Hause geschafft habe.
Eigentlich wird es besser, wenn ich mich bewege. Wenn ich eine Weile sitze oder liege und dann aufstehe, ist es besonders schlimm. Mom kneift nur die Lippen zusammen und sagt überhaupt nichts. Muß sie auch nicht, ich weiß genau, was sie denkt.

Montag, 22. April 1996

22. April

14:15
»Und, wie ist es? Kommst du heute zum Training?« wollte Florian wissen. Na klar gehe ich heute zum Training. Ich werde Ringer, und wenn es nur dafür gut ist, Tobias zu ärgern. Doris gluckste vor Lachen, als ich ihr erzählte, daß ich jetzt mit dem Ringen anfange. Ich wollte wissen, was sie daran so komisch findet, aber sie grinste nur. Na, was soll's.

In der großen Pause habe ich Boris aus dem X1 gesehen. Er hat mich auch gesehen, hat aber weggeguckt und ist ganz schnell verschwunden. So ein Idiot, wenigstens begrüßen hätte er mich können. Ich hätte schon nicht rausposaunt, was wir auf dem Klo gemacht haben. Irgendwie ist das schon ziemlich daneben. Da gibt es tatsächlich noch jemanden auf der Schule, der schwul ist, und der traut sich nicht mal, mit mir zu sprechen. Dabei wäre es toll, endlich mal mit jemandem reden zu können.


21:30
Ich bin ja sooo fertig. Das Training war tierisch anstrengend. Dimitri hat die ganzen Leute in der Halle neu gemischt, und ich bin nun in einer Gruppe mit anderen Anfängern, die aber alle jünger sind als ich. Wir haben zwei Griffe gezeigt bekommen, die wir bis zum Umfallen üben durften. Am Schluß hat er mich dann zur Gruppe von Nils und Florian geholt, und ich sollte wieder mal gegen Flori kämpfen. Na ja, erübrigt sich wohl zu sagen, wie es ausgegangen ist. Einmal in der Woche Kraftraum hat Dimitri mir verordnet. Cool, dann bekomme ich gleich noch ein paar Muskeln mit. Wenn ich nur nicht so fertig wäre. Ich gehe gleich schlafen.

Sonntag, 21. April 1996

21. April

7:30
Cooler Abend. Viel Bier, und Silvio hatte ein paar Tanztabletten mitgebracht. Ich habe ewig abgedanct, sogar ohne T-Shirt. Irgendwann habe ich bemerkt, daß mich ein Junge die ganze Zeit anstarrte. Ich habe ihn angelächelt, und er lächelte zurück. Als ich vom Klo kam, stand er an den Waschbecken und lächelte mich wieder an. Ich weiß nicht warum, aber in dem Moment wußte ich ganz genau, was er wollte, was ich wollte. Wir gingen in eine Kabine. Am Anfang war es geil. Bis er versuchte, mich zu küssen. Ich drehte den Kopf weg. Ich will nur einen Jungen küssen, den ich liebe. Er guckte mich verblüfft an und hörte auf. Vor dem Klo wartete er auf mich und wir quatschen kurz. Das ist irgendwie verrückt, er geht auf meine Schule, Oberstufe. Na toll. Ich hab ihn noch nie gesehen. Wie auch immer, er ist bestimmt nicht der Junge, in den ich mich verknallen würde, aber dieses Gefühl, daß ein anderer Junge einen will, das tut richtig gut. Irgendwann hab ich mich dann abgeseilt. Nils und Florian knutschten mit irgendwelchen Mädels rum, Melanie plapperte auf den Türsteher ein.. Die anderen waren eh nicht aufzutreiben. Auf dem Weg zum Bahnhof mußte ich wieder an Tobi denken. Ich redete mir ein, daß er mir völlig egal ist, schließlich kann ich jederzeit einen anderen Jungen haben.

Ich saß im Zug, als mich ein Mädchen ansprach: »Hast du Feuer?« »Ich rauche nicht.« Als ich aufsah, bekam ich einen Schreck. Sie war total blaß, die Augen völlig leer, hatte einen schwarzen Lackmantel und rote Lackstiefel an. Ich muß sie wohl völlig entgeistert angestarrt haben, denn sie fuhr mich an: »Was gibt’s denn da zu glotzen?«
»Nichts«, murmelte ich und guckte krampfhaft aus dem Fenster.
»Mensch siehst du fertig aus«, fuhr sie fort. »Bist du down?«
»Na ja, irgendwie schon.«
»Wie alt bist du denn?«
»Achtzehn«, log ich ganz automatisch.
»So siehst du mir aber nicht aus.« Ihre Stimme war plötzlich samtweich. Das ist ja nun das Letzte, was ich gebrauchen kann, Komplimente von einer Nutte. »Hast du zwanzig Mark?«
»Nein, wieso?«
»Nur so. Du bist nicht zufällig geil?« Sie öffnete ihren Mantel, und ich sah, daß sie nur eine Art Body drunter hatte. Ich wollte weg, aber irgendwas hielt mich zurück.
»Nein!«
»Schon gut, ist ja o.k. Keine Angst, Kleiner.«
Na toll, auf solche Sprüche fahr ich ja nun total ab. »Mensch, du nervst.«
»Was ist denn mit dir los?« Sie beugte sich vor. »Hast du Probleme mit deiner Tussi?«
»Ich habe keine Tussi.«
»Ach, deshalb bist du so fertig.«
»Nein!«
»Was denn dann?«
»Ich habe keine Tussi, ich bin schwul!« schrie ich sie an.
Das Wort rutschte mir einfach so raus, als wäre es das selbstverständlichste auf der Welt. »Aha«, sagte sie unbeeindruckt. »Hast also Probleme mit deinem Typen?« »Nein, ich habe Probleme mit mir selbst«, meinte ich trotzig.
Sie lachte. »Ach, und da glaubst du, du bist der einzige auf der Welt, der Probleme hat?« Ich blickte sie an. Und plötzlich fühlte ich mich total stark. Mir geht es gut. Ich muß nicht anschaffen gehen, wie diese Tussi, ich sehe so gut aus, daß mir die Jungs hinterherlaufen. Und die Sache mit Tobias? Scheiß auf den Wichser! Der Zug hielt. Waldhausen. Sie stieg aus. »Tschüß«, sagte sie, »vielleicht sehen wir uns ja mal wieder.« Das muß ja nicht unbedingt sein.

Auf dem Weg vom Bahnhof nach Hause machte ich Inventur: Ich ging alle Sachen durch, warum es mir gut gehen kann. Und die Sachen, warum es mir schlecht geht. Bei den Sachen zum Schlechtgehen gibt es nur die eine Sache: Ich will einen Freund! Ich habe die beiden Seiten gegeneinander abgewogen und bin zu dem Ergebnis gekommen, daß es so schlimm gar nicht aussieht. Ich will einen Freund, einen richtigen Freund, zum Lachen, zum Reden, zum Weinen, zum Kuscheln, zum Küssen und Lieben. Irgendwann werde ich ihn finden. Und bis dahin will ich was anderes: Leben und Spaß haben!

Samstag, 20. April 1996

20. April

»Und?«
Florian schaute mich nach dem Wettkampf fragend an. »Spannend!« Er hatte mich mittags angerufen und gefragt, ob ich beim Wettkampf zugucken möchte. Die anderen begrüßten mich grölend und fragten, ob ich denn schon für die Mannschaft aufgestellt sei. Sehr witzig. Ich setzte mich an den Rand, doch da hielt es mich nicht lange. Plötzlich merkte ich, wie ich Nils, Florian und die anderen „meiner Mannschaft“ anfeuerte; ebenso lautstark wie die anderen Zuschauer. Ich freute mich für sie, wenn sie einen Kampf gewonnen hatten, obwohl ich nicht immer verstand, wieso. Florian versuchte zwar, mir das seltsame Punktesystem zu erklären, mußte aber dann wieder auf die Matte. Ich frage mich, ob ich selbst irgendwann mal bei so einem Wettkampf auf der Matte stehen würde. Der Gedanke daran macht mir irgendwie Angst. Ich erinnere mich an mein erstes Turnier bei Blau-Gold. Das war irgendwie ganz selbstverständlich, ich glaube ich hatte nicht mal Lampenfieber oder so was. Das wirklich merkwürdige ist, daß ich die Kämpfe heute gar nicht mehr so geil gefunden habe wie damals in Hamburg. Ich fand sie vor allem spannend.

Und was noch spannend ist, nein, eher schön: Für die anderen gehöre ich dazu, ganz selbstverständlich.

Jetzt werde ich mich fertig machen fürs X1. Ich hab richtig Lust drauf.

Freitag, 19. April 1996

19. April

14:30
»Du willst was?«
Wir saßen beim Frühstück, und Moms Gesicht war eine Mischung aus Unverständnis und Abscheu: »Aber warum denn um alles in der Welt diesen Sport? Der ist so, so ... primitiv.« Ich war reichlich verdattert. Damit hattee ich nun wirklich nicht gerechnet. »Warum spielst du nicht wieder Tennis wie in Hamburg?« Ich habe versucht, ihr zu erklären, daß mich Tennis inzwischen total ankotzt. Sie wollte es natürlich nicht einsehen und schaute Dad an: »Vielleicht sagst du auch mal etwas dazu ...«
Er zuckte nur mit den Schultern: »Laß ihn doch, wenn er es will. Ich finde, er ist alt genug, das selbst zu entscheiden.«
»Und überhaupt«, schob ich nach, »alle in meiner Klasse sind im Verein. Und du sagst doch immer, ich soll hier Leute kennenlernen.«
»Ich bin überhaupt nicht begeistert.« Sie verzog das Gesicht: »Wenn ich mir vorstelle, daß sich mein Sohn mit anderen herumprügelt. Das muß doch nicht sein.«
»Das ist doch kein Prügeln ...« »In drei Teufels Namen«, seufzte sie, »hier macht ja sowieso jeder was wer will.« Mein erster Ringer-Sieg!

Tobias hat sich die Haare abschneiden lassen, seine Locken sind verschwunden. Total kahlrasiert sieht er jetzt wie ein Skinhead aus. Bestimmt hat ihn diese blöde Ziege dazu überredet. Er kam ganz stolz auf mich zu. Wahrscheinlich erwartete er, daß ich es cool finde. »Es sieht total beknackt aus«, antwortete ich als er mich fragte, wie ich das finde.

Florian hat mich gefragt, wie es mir denn nach dem Training so geht. »Keine Probleme«,hab ich gesagt. Er hat nur gegrinst und gesagt: »Das wird sich ändern.« Ich weiß nicht sorecht, was er damit meint.

Doris will heute nachmittag mit mir reden. Ich ahne schon, was sie will.

23:12
Doris meint, ich wäre im Augenblick unausstehlich. Wahrscheinlich hat sie recht. Aber was erwartet sie denn? Soll ich rumlaufen und das auch noch toll finden, wenn Tobi, mein Tobi, mit einem Mädel rummacht? Das hab ich ihr natürlich nicht gesagt, obwohl sie immer wieder gefragt hat, was denn nun eigentlich mit mir los ist. Ich war auch kurz davor, es ihr zu sagen, aber ich hab mich irgendwie dann doch nicht getraut. Schade, irgendwie wäre es schön, jemanden zu haben, mit dem ich darüber sprechen könnte.

Donnerstag, 18. April 1996

18. April

13:50
»Mein Gott, was ist denn mit dir los? Hast du die letzten Nächte durchgesoffen, oder was ist los?« Doris sah echt besorgt aus. Ich wünschte, das wäre der Grund, der würde wenigstens vorbeigehen. Falkenberg hat einen Riesenterz gemacht, daß ich gestern einfach verschwunden bin. So mit ›Das geht aber so nicht‹ und ›Du mußt dich wenigstens abmelden.‹ Bla, bla, bla. Scheiß drauf!

In der Pause hätte ich Tobias fast geschlagen. Er stand natürlich mit Meike zusammen, und sie küßten sich. Ich war kurz davor, rüberzugehen und ihm eine runterzuhauen. ›Du mußt versprechen, es niemandem weiterzuerzählen.‹ So ein verlogener Penner! Guckt her, die ganze Schule sieht es: Tobias, mein Tobias knutscht mit so einer dummen Kuh auf dem Schulhof rum! Ich wäre wirklich fast zu ihm rübergegangen, doch in dem Moment kam Doris. Sie fragte: »Sind sie nicht niedlich, die beiden?«
»Ich könnte kotzen«, schrie ich heraus.
Doris guckte mich total verwirrt an. Ich wollte nichts erklären. Was hätte ich auch erklären können? Ich ging rüber zur Clique von Nils und Melanie. Sie fragten, ob ich am Wochenende mit ins X1 komme. Eigentlich hatte ich nun überhaupt keine Lust. Aber dann schoß es mir durch den Kopf: Ich wollte Tobias weh tun, So wie er mir weh getan hat und es immer noch tut. Und ich habe für Samstag zugesagt.
Nils grinste: »Na, wir machen aus dir schon was!«
»Bild’ dir bloß nichts ein. Ich war in Hamburg in Läden drin, davon träumst du nur. Aber das versteht ja so einer vom Dorf sowieso nicht.« Plötzlich waren alle still. Ok, das war natürlich Scheiße. Nils konnte ja nun echt nichts dafür, daß ich sauer auf Tobi war. Nils guckte mich an und seine Augen wurden ganz starr »Paß mal auf, du Wichser, wenn du glaubst, du kannst hierher kommen und den Master of the Universe spielen, nur weil du aus so einer tollen vornehmen Stadt kommst, dann hast du Trauer!« Ich ging auf ihn zu. Ich weiß gar nicht, was ich eigentlich genau machen wollte, ich versuchte ihn nach hinten zu stoßen. Doch er war schneller. Blitzschnell lag ich auf dem Boden, Nils über mir und hielt meinen rechten Arm und meinen Kopf in einem harten Griff. »Und noch eines«, flüsterte er ganz ruhig, »lege dich nie mit einem Ringer an. Ich hoffe, du kapierst das jetzt end-ich.« Er ließ los. Ich hockte auf der Erde und war kurz davor zu heulen. Es klingelte. Ich blieb auf dem Boden hocken. Nils neben mir. »Na komm schon, steh' auf. Er buffte mich leicht in die Seite. »Nicht sauer sein, aber du bist ja gleich so auf mich zugekommen, da konnte ich einfach nicht anders.«
»Ist schon o.k. Sorry, mir geht's im Moment einfach nicht so gut. War nicht so gemeint, mit dem Dorf.«
»Alles klar.«
»Wie hast du das gemacht eben?«
»Das war ein ganz einfacher Griff, ein kleiner kurzer Hebel.«
»Du bist Ringer?«
»Jaaaa! Na klar! Mensch! Du bist hier in Bergbach. Hier kommen alle guten Ringer her. Hier ringt eigentlich fast jeder.«
Tobias bestimmt nicht, schoß mir durch den Kopf. Ich erinnere mich, daß ich mal bei einem Ringkampf beim FSV war. Irgendein Freund von Tassi hatte ein Turnier, und es war irgendwie seltsam. Ich fragte mich, was es wohl für ein Gefühl war, sich mit jemandem halbnackt auf dem Boden zu rollen. Aber irgendwie fand ich das damals auch geil. Nach dem Wettkampf bin ich auf dem Klo verschwunden, um mir einen runterzuholen. Hamburg. Eine völlig andere Welt.
Nils holte mich wieder zurück nach Bergbach: »Komm doch einfach mal mit zum Training.«
»Ich kann nicht ringen.«
»Du sollst es ja auch nicht können, sondern lernen.«
Er boxte mich leicht: »Heute um vier geht's los, ich hole dich ab. Keine Widerrede.«

Jetzt sitze ich hier und überlege. Soll ich tatsächlich mitgehen? Ich werde mich voll zum Horst machen. Andererseits ... was würde Tobias sagen, wenn er erfährt, daß ich ringe? Ich glaube, er würde abkotzen. Ja! Gut so! Bei dem Gedanken muß ich tatsächlich ein bißchen lächeln. Es klingelt. Ja, ich werde es probieren. Woher weiß Nils eigentlich, wo ich wohne?


23:10
Ich war beim Ringer-Training. Zum ersten Mal. Komisches Ding. Während Nils sich umzog, ging ich in die Halle. Der ganze Fußboden besteht nur aus Matten. Überall wuselten irgendwelche Leute rum. In einer Ecke saß eine Gruppe Jungs, und ich erkannte Florian. Ich ging zu ihnen rüber, als mich plötzlich eine Stimme anschrie: »Schuhe aus!« Ich drehte mich um. Ein Berg kam auf mich zu, ein Berg. »Schuhe aus, du Pfeife«, wiederholte er. Der Berg stand direkt vor mir: »Wer bist du denn?« Zum Glück kam Nils: »Das ist Tim, ein Neuer aus meiner Klasse und er will ringen.« »Na, wenigstens mal versuchen«, murmelte ich. Mein Kopf war völlig dicht. »Auf der Matte nicht mit Straßenschuhen spazieren gehen, klar?« Der Berg wurde etwas freundlicher, mit einem Akzent wie russisch oder polnisch. Reg dich ab, Mann, wollte ich sagen, doch es war bestimmt besser, nichts zu sagen.
»So, du willst also ringen.« Er musterte mich von oben bis unten. »Gewicht?« Woher sollte ich das denn wissen? Das letzte Mal stand ich auf einer Waage bei der Schuluntersuchung im GySue. Ich zuckte mit den Schultern.
»Schon mal gerungen?« Konnte dieser Mann eigentlich auch einen einzigen zusammenhängenden Satz von sich geben?
»Nein, bisher noch nicht.«
»Und warum willst du ausgerechnet ringen?« Na bitte, es geht doch, allerdings war ich auf diese Frage nun wirklich nicht vorbereitet. Die Wahrheit und ich hätte wahrscheinlich die Halle nicht lebend verlassen. »Ich wollte eigentlich schon lange ringen lernen, aber in Hamburg ging das nicht.« Er schnaufte verächtlich durch die Nase: »Bei dem Verein da auch kein Wunder. Schon mal Sport gemacht?«
»Na klar, früher Schwimmen und bis vor kurzem Tennis.«
Der Berg verdrehte die Augen: »Oh, wir haben einen ganz hohen Herren hier. Der Herr spielt Tennis in seinen weißen Hemdchen und Höschen. Springt einem kleinen Ball hinterher.« Die anderen lachten, und ich wurde stinksauer. Sein Zeigefinger tippte auf meiner Brust, ich versuchte, nicht nach hinten zu kippen, langsam tat es weh. »Ringen ist ein Sport für Männer! Klar?« Ich versuchte, ihm trotzig in die Augen zu blicken. Nur keine Schwäche zeigen. Ich erinnerte mich, was ich mal in einem von Dads Managerbüchern gelesen hatte, den Blick genau zwischen den Augen fixieren. »Tennis ist was für verwöhnte Schmarotzer, Fußball ist ein Sport für Schwächlinge, und wenn du eine Memme bleiben willst, dann geh’ Basketball spielen.« Sein Finger tippte immer noch auf meiner Brust rum. »Du willst Ringer werden? Du wirst bluten, du wirst jeden Knochen einzeln zählen, du wirst tagelang nicht kriechen können. Willst Du das?« Verdammt noch mal, was sollte denn das? Bin ich hier in 'ner Horrorshow? Ich wollte eigentlich nichts lieber als so schnell wie möglich hier abhauen. Ich guckte zu Nils. Der nickte.
»Ja, verdammt noch mal, ja.« Nur raus hier, dachte ich, macht euer Scheiß-Ringen doch alleine. Doch irgendwas hielt mich davon ab. Der Berg vor mir: »Wir werrrrden sehen. – Hast du Trainingszeug dabei?« Ich nickte. »Zeig ihm, wo er sich umziehen kann.«

Ich warf meinen Rucksack in eine Ecke und ließ mich auf die Bank vor den Schränken fallen. Nils hatte die Tür der Umkleide hinter uns zugemacht. Der Lärm der Halle klang nur noch gedämpft zu uns herein.
»Was ist denn das für ein Penner?«
»Das ist Dimi.«
»Dimi?«
»Dimitri, unser Trainer.« Ich fand Dimi absolut unpassend für so einen Klotz.
»Ich glaub, ich geh' wieder. Ich bin doch hier nicht im Straflager.«
Nils lachte: »Komm, das gehört dazu, er wollte dich testen.«
»Ich hasse so was, ich bin doch kein Stück Vieh.«
»Ich weiß«, sagte er plötzlich ganz leise und blickte mir in die Augen. Eine Sekunde, zwei Sekunden. Es war, als ob ein Strahl seine Augen verließ, durch meine Augen eindrang und irgendwas in mir zum Glühen brachte. O mein Gott! Alles an ihm schien so perfekt zu sein, die Augen, die Nase, sein Mund mit den wunderschönen Lippen. Nils, um alles in der Welt, schau mich nie wieder so an. Ich guckte weg. Er ist ein Hete, verdammt noch mal!
»Na, komm schon, Kleiner.«
Ich kramte meine Sachen hervor. Sah er mir zu, wie ich mich umzog? Nein, wieso auch, er ist ein Hete.
»Was ist mit diesen komischen Dingern, die ihr beim Ringen anhabt?« »Ach du meinst Trikots? Brauchst du ned fürs Training, und bis zu deinem ersten richtigen Kampf wird's ja noch mindestens eine Woche dauern.« Er grinste und schob mich in die Halle.
Aufwärmen, zehn Runden, nach jeder Runde zehn Liegestütz usw. Meinem altem Tenniscoach sei Dank. Nach einer halben Stunde standen wir alle schweißnaß in einer Runde. Ich blickte mich um – ich war nicht fertiger als die anderen. Im Gegenteil. Ein paar von den anderen Jungs pusteten viel mehr als ich. Wenigstens etwas.
»Unser Herr scheint gut trainiert zu sein.« Oh, ein anerkennendes Wort vom Lageraufseher persönlich. »Bist du bereit?« Ich wußte nicht, was er meinte. Wahrscheinlich erwartete er auch keine Antwort. Er zeigte nur auf die Mitte der Matte. »Dann zeig uns mal, was du kannst.« Was sollte denn das jetzt werden?
»Ich hab doch gesagt, ich hab noch nie gerungen, was soll ich denn jetzt zeigen?« Dimi schien mich nicht zu hören, er sprach leise mit einem anderen Jungen. »Hier«, sagte er, »du kämpfst gegen Florian, der ist deine Gewichtsklasse.«
Oh Shit. Jetzt war ich endgültig am Arsch. Adios Amigos, Schluß mit dieser bekloppten Idee, Ringer werden zu wollen. Nils zwinkerte mir zu, Dimi flüsterte Florian etwas ins Ohr, Florian nickte. Wahrscheinlich irgendsowas wie ›mach ihn fertig‹.

Wir standen in der Mitte der Matte. Zum ersten Mal in meinem Leben stand ich also auf einer Ringermatte, ein echter Ringer mir gegenüber. Florian hatte aufgehört zu grinsen und blickte mich finster an. Ich fand das irgendwie total albern. Dimitri pfiff, und es ging los. Doch was ging eigentlich los? Was sollte ich machen? Ich hatte überhaupt keine Ahnung. Ich versuchte mich krampfhaft an die Ringkämpfe, die ich im Fernsehen gesehen hatte, zu erinnern. Irgendein Griff, irgendwas, Fehlanzeige. Florian kam in gebückte Haltung auf mich zu, griff an, ich wich aus. Ein lautes Buhen kam von den anderen. Wie mache ich mich am besten zum Horst? Also gut, wenn's sein muß. Ich schaffte es, mich unter Florian zu ducken, ergriff seinen Fuß und riß ihn hoch. Er fiel nach hinten über und landete mit einem lauten Rumms auf der Matte. Ich bekam den totalen Schreck. Hoffentlich war ihm nichts passiert. Doch er rap-pelte sich blitzschnell wieder auf. Ich erwischte ihn noch im Aufstehen, umfaßte seinen Oberkörper und drehte ihn herum. »Yeah, Timmi, weiter so«, Nils grölte. Florian drückte sich platt wie eine Flunder auf den Boden. Mutig geworden, versuchte ich ihn umzudrehen. Ich griff nach seinem Oberschenkel, es ging nichts, seinen Arm – unmöglich. »Einsteiger, Einsteiger«, schrie Nils. Keine Ahnung, was er damit meinte. Ich schaffte es, meinen linken Arm über seine Schulter zu schieben. Mein rechter Arm glitt unter seine Hüfte. Für eine Zehntelsekunde berührte meine Hand seinen Schwanz. Sorry, wollte ich sagen, doch mein Kopf schaltete schon weiter, ich verschränkte meine Hände und begann ihn hochzudrehen. Ich erinnerte mich an Physik. Hebelgesetze, Kraft mal Gewicht gleich Hebelarm mal blabla. Florian landete auf dem Rücken. Ich hielt ihn fest. Dimitri pfiff. Es war vorbei. Wow, das war alles? Mein Herz raste wie wild, ich rang nach Luft. Ich war stolz, mein erster Schultersieg. Florian rappelte sich auf und grinste mich unverschämt an. Etwas mehr Anerkennung wäre nicht schlecht. »Und?« ich guckte fragend zu Dimitri.
»Na ja.«
Was denn noch, ich hatte einen seiner Ringer auf die Matte gelegt.
»Kann ich nun mitmachen?«
»Was meint ihr?« er blickte in die Runde. Ich verstand überhaupt nichts mehr, dieser Mann fragte die anderen nach ihrer Meinung? Sie grölten und trommelten auf die Matte. »Timmi ist der Champion«, prustete Nils. Irgendwas stimmt hier nicht. Ich hatte die Faxen dicke: »Verdammt noch mal, was wollen Sie eigentlich?« schrie ich ihn an. »Ich habe immerhin einen Ihrer Klasse-Ringer auf die Matte gelegt.«
Plötzlich klang seine Stimme ganz tief und ruhig: »Was glaubst Du, hast Du gemacht?«
»Ich habe meinen Gegner geschultert«, sagte ich trotzig, »und ich habe gewonnen.«
Er brummte etwas. Na also. Dann drehte er sich um, schnippte in Florians Richtung. Der sprang auf, und Dimitri wies mich mit einer Handbewegung wieder auf die Matte.

Total verwirrt stand ich Florian wieder gegenüber. Also gut, dann eben noch mal. Angriffsstellung, ein Pfiff. Was dann passierte, weiß ich nicht mehr genau. Ich weiß nur noch, daß ich blitzschnell auf dem Rücken lag und die Deckenlampen mich blendeten. Florian hielt mich lachend fest. Als Dimitri näher kam, ließ er los und stand auf. Ich blieb liegen, schloß die Augen. »Du hast gewonnen, denkst du? Du hast gar nichts. Du hast gegen Florian gewonnen, weil ich es so wollte – ich wollte sehen, wie du kämpfst und nicht in einer Sekunde am Boden liegst. So wie jetzt«

Shit! Verdammte Scheiße! Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen schossen. Dieser Penner. Er hatte mich zum größten Idioten dieser Welt gemacht, mich bis auf die Knochen blamiert. Und ich war darauf hereingefallen, war sogar noch stolz auf meinen vermeintlichen Sieg gewesen. Dimitri grinste: »Na komm schon, steh auf und zieh dich um. Du kannst mitmachen. Montag um vier bist du wieder hier. Dann geht es richtig los.«

Ich ging in die Umkleide und warf mich auf die Bank. Hier hatte ich vor einer Stunde noch gesessen. Nils hatte mir tief in die Augen geblickt. Ich wünschte mir diese Sekunden zurück. Sie sollten nie mehr aufhören. Was war passiert? Ich hatte mich bis auf die Knochen blamiert. Für 30 andere Jungs habe ich mich wie der absolute Volltrottel benommen. Ich erinnere mich an Blau-Gold, an den ersten Tag beim Training. Der Trainer sprach mit Dad. »Na komm, Tim, wir schauen erst mal, was die anderen Jungs machen«, hatte er freundlich gesagt, und wir waren zusammen auf den Platz gegangen. Das waren zwei Welten. Die Tür öffnete sich. Nils kam herein und pfiff durch die Zähne: »Wrestler's in da house«, rappte er.
Ich sagte nichts und packte wütend meine Sachen.
»Ach komm«, er buffte mich in die Seite. »Du warst nicht schlecht.«
»Ich will nicht mehr.« Er packte mich bei den Schultern. Ich fühlte seine warmen, weichen Hände auf meiner Schulter. Da war er wieder, dieser Blick, der in mir alles zum Drehen bringt.
»Doch, du willst,« sagte er, »du wolltest es schon immer, und du willst es immer noch.«
Was glaubt Nils zu wissen, was niemand weiß? Er drehte sich um und begann auf und ab zu gehen. »Was hast du erwartet? Bist du vielleicht Big King Alex Leipold? Du kommst hier aus deinem scheißvornehmen Hamburg, wohnst hier in einem scheißteuren Haus und denkst jetzt, du bist Master of the Universe?« Schon wieder dieser komische Ausbruch. Ich verstand überhaupt nicht, was er wollte.
»Das ist ungerecht, das stimmt nicht. Ich dachte, das hier ist ein Sportverein, wo jeder eintreten kann und ringen kann, wenn er Lust hat.«
»Ringen ist nicht nur irgendein Sport. Du gehst damit und du schläfst damit, du ißt es und du atmest es. Es ist überall.« Mein Gott, wer hatte ihm denn diesen Blödsinn eingetrichtert? »Du bist im Team, also hör auf zu jammern.« Er knallte die Tür zu seinem Schrank zu. »Laß uns duschen gehen.«
In diesem Augenblick kam die Horde herein. Florian kam auf mich zu und boxte mir auf die Brust: »Nicht sauer sein.« Ich versuchte, irgendein Zeichen von Spott in seinem Gesicht zu finden, doch er lachte mich einfach nur freundlich an. Er war einer der wenigen, der beim Training eins von diesen Trikots getragen hatte. Und er stand direkt vor mir. Mein Fotoblick. Jedes Blinkern mit den Augen ist ein Foto. Ich will diese Bilder behalten. Klick, ein Bild von seiner Wölbung im Trikot. Du hast einen schönen Schwanz, und ich hab ihn für den einen winzigen Augenblick berührt. Ob er es gemerkt hatte? Ich riß mich zusammen. »Ist schon o.k.«, sagte ich.
»Du warst gar nicht mal schlecht. Gib's zu, du hast früher schon mal gerungen.«
»Nein, echt nicht.«
»Wow, ein Naturtalent«, sagte der Typ hinter ihm. »Ich bin Kevin, 70 Kilo.«
Gewicht scheint hier ja unheimlich wichtig zu sein. Er reichte mir großbrüderlich die Hand. »Wo kommst du her?«
»Hamburg.«
»Wow, ein Seebär.« Gott sei Dank hatte er nicht Fischkopp gesagt, ich wäre ihm an die Gurgel gegangen, obwohl er gut zwei Kopf größer ist. Irgend jemand grölte: »An der Nordseeküste...«
»Bitte um die Erlaubnis, an Bord kommen zu dürfen, Sir.« grinste ich.
»Erlaubnis erteilt, Sir. Willkommen an Bord. Captain. Sir.«
Ich fing Nils' zufriedenen Blick auf: »Captain Iglo!«. Ich kramte in meiner Tasche. Als ich wieder hochblickte, sah ich Nils nackt mit dem Rücken zu mir an seinem Schrank stehen. Bloß das jetzt nicht. Blitzschnell zog ich meine Jeans an. Als er sich umdrehte, runzelte er die Stirn. »Was ist denn nun?«
»Ich habe mein Duschzeug vergessen«, log ich. An der Tür drehte ich mich noch mal um und sagte: »Danke, du bist cool.«
»Ich weiß. Nichts zu danken.« Nils lächelte.
Ich habe Mom und Dad nichts erzählt. Zu viele Sachen gehen mir im Moment noch im Kopf rum. Was ich nicht verstehe ist, warum ich eigentlich weitermachen will? Irgendwie ist Ringen überhaupt nicht spannend. Wo ist denn das, was ich in Hamburg geil gefunden habe? Keine Ahnung, aber ich mache weiter. Und einen Vorteil hat die ganze Sache: Ich habe den ganzen Nachmittag und Abend nicht einmal an Tobias gedacht. Und jetzt? Jetzt bin ich einfach zu müde. und mein Kopf ist voll. Aber womit eigentlich?

Mittwoch, 17. April 1996

17. April

»Ein Scheißtag !« Ich habe es geschrien, laut rausgeschrien. Doch keiner konnte mich hören. Ich bin nach Tobias zu meiner Stelle am Kochertalweg gefahren. Ich habe geschrien und geheult. Jetzt schreie ich nicht mehr, aber heulen tue ich immer noch. Alles ist aus! Das Leben hat keinen Sinn mehr. Tobias hat eine Freundin! Das ist absolut nicht fair.

Er öffnete mir die Tür und strahlte über das ganze Gesicht. Ich jubelte innerlich, denn eine Wolke CKone wehte mir entgegen. Wir gingen in sein Zimmer, nicht ohne daß seine Mutter mich nicht mit einem Teller mit Kuchen versorgt hätte. Ich gab ihm die CD, und er schien sich tatsächlich zu freuen. Da saß ich auf seinem Bett, und er begann: »Ich muß dir unbedingt was erzählen. Aber du mußt versprechen, es niemandem weiterzuerzählen.« »Kein Problem.« Und ich Idiot dachte irgendwie noch, da kannst du aber 100%ig sicher sein, daß ich das niemandem erzähle.
»Kennst du Meike?«
»Nö, wer ist das?«
»Das ist ein Mädchen aus der B-Klasse. Aber eigentlich ist sie A-Klasse.« Er lachte, weil er das für einen guten Witz hielt. Mir wurde auf einmal ganz seltsam. Ehe ich weiterdenken konnte fuhr er strahlend fort: »Meike und ich sind zusammen.« Es war, als hätte er mir einen Schlag in den Magen verpaßt. Tobias lächelte, und ich saß wie erstarrt auf dem Bett, auf diesem Bett! Er plapperte weiter, ich weiß gar nicht mehr, was er alles gesagt hat. Irgendwann hielt er inne und meinte: »Und? Du sagst ja gar nichts.« Ehe ich es irgendwie schaffte, das Karussell in meinem Kopf anzuhalten, klingelte es, und er sprang auf, um nach unten zu gehen. ›Meike und ich sind zusammen‹, dröhnte es in meinem Kopf.

Ich wollte aufwachen, das war bestimmt alles nur ein blöder Traum. Aber es war kein Traum. Ich hockte in diesem Zimmer, wo ich davon geträumt hatte, ihm alles zu sagen, ihn in die Arme zu nehmen. Die Luft war voll mit CKone auf einmal war ich ganz alleine auf der Welt. Tobias kam zurück. Im Schlepptau zwei Mädchen. Er präsentierte mir Meike. Ich hatte sie nie zuvor gesehen, was irgendwie auch kein Wunder ist. Ein dürres kleines Ding, völlig farblos, das permanent kicherte, sobald Tobias irgendwas sagte. Als ich die beiden beobachtete, mußte ich fast kotzen. Immer wenn sie Tobias ansah, schien sie unheimlich glücklich zu sein. Jetzt weiß ich, was selbstzufrieden heißt. Sie redeten, redeten und redeten. Das andere Mädel war wohl ihre Freundin. Sie setzte sich zu mir und stellte mir ein paar blöde Fragen. Ich weiß nicht mehr was. Ich weiß auch nicht mehr, was ich geantwortet habe. Ich sah nur Tobias an. Tobias hat kein einziges Mal mehr zu mir rübergeguckt. Irgendwann fingen sie an, sich zu küssen. Mir wurde tatsächlich kotzübel, und ich bin gegangen. Ich bin in den Wald gefahren. Auf der Fahrt hämmerte es immer wieder: ›Meike und ich sind zusammen.‹ Ich habe geschrien, ihn verflucht. Niemand hat mich gehört. Und wenn. Und ich habe geheult. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal geweint habe, ist mir auch egal. Während ich das schreibe, heule ich wieder.

Es tut so weh!!! Tobi, mein kleiner Tobi, warum hast du mir das angetan? Warum tust du mir so weh?

14:20
Ich bin nach der großen Pause abgehauen. Doris fragte mich gleich am Schul-or, was mit mir ist, ich würde richtig scheiße aussehen. Ich log sie nicht mal an, als ich ihr sagte, mir ist kotzübel. Tobias kam zu mir und fragte, ob es mir inzwischen besser geht und ob es am Kuchen gelegen hätte. Ich schüttelte nur den Kopf. Ich vermied es, ihm in die Augen zu sehen. Die ersten zwei Stunden rauschten an mir vorbei. Ich bin leer. Es passiert alles weit, weit weg. Es betrifft mich nicht mehr. In der Pause standen die zwei zusammen. Ich konnte mir vorstellen, wie sie wieder ständig kicherte. Ich habe die ganze Zeit Tobias angestarrt und versucht, ihn mit meinen Gedanken von ihr wegzubringen. Irgendwann hat es so weh getan, daß ich die Augen zumachte. Und ich bin gegangen. Was läuft hier für ein Scheiß-Spiel? Was hat diese dumme Kuh mit meinem Tobi gemacht? Mir kommen die ganzen Bilder zurück, wo ich mit ihm zusammen war. Ich erinnere mich an jeden Blick in seinen Augen. Es tut so weh. War das alles nur gespielt oder Einbildung? Ich weiß es nicht. Ich weiß nichts mehr. Ich glaube, ich gehe raus.

23:45
Es geht mir nicht viel besser, aber es tut nicht mehr ganz so weh. Ich bin einfach nur spazieren gegangen. Und habe nichts gedacht. Es geht irgendwie ganz gut. Kein Abendbrot gegessen. Nein, mir geht's nicht besonders. Lisa eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen. Sie schlief schnell ein und sah aus, wie eine kleine Prinzessin. Hoffentlich tut ihr niemand jemals so weh.

Dienstag, 16. April 1996

16. April

15:20
»Denk’ daran, daß du morgen wieder früh raus mußt.« Ich habe Mom auf Arbeit angerufen, um ihr zu sagen, daß sie nicht mit dem Abendessen auf mich warten sollen. Ja, ja, morgen. Morgen sind Tobi und ich zusammen. Der Rest ist mir egal. So, jetzt noch rasch unter die Dusche, und dann muß ich los. Tobi, ich komme!

Montag, 15. April 1996

15. April

»Ich muß dir unbedingt was erzählen.« Tobi Augen blitzten.
»Und was?«
»Nicht hier«, murmelte er geheimnisvoll. »Du kommst doch morgen zu meinem Geburtstag, da erzähl' ich's dir.« Oh, Tobi hat morgen Geburtstag. Was will er mir denn erzählen? Ist er etwa über Ostern auch auf den Trichter gekommen? Ich habe ihn tatsächlich vermißt. In Englisch guckte ich ein paar Mal zu ihm rüber, und er zwinkerte mir zu. Bestimmt. Ich bin mir fast sicher. Bei dem Gedanken kriege ich Herzklopfen. Tobi, ab morgen sind wir zusammen!

Nach der Schule bin ich losgefahren, um für Tobi was zum Geburtstag zu kaufen. Ich habe mich für eine Flasche CKone und für eine Chopin-CD entschieden. Ich glaube, die Verkäuferin ist fast verzweifelt. Da ich überhaupt nicht weiß, was er alles für CDs hat, wollte ich irgendwas besonderes oder seltenes. Na ja, ich hoffe, er hat die noch nicht.

22:16
Das mit dem CKone ist mir etwas zu persönlich. Ich meine, ich kenne ihn ja noch gar nicht so gut. Ich hab es eingepackt, ›FÜR TOBI‹ raufgeschrieben, bin zu seinem Haus gelaufen und habe es heimlich in seinen Briefkasten geworfen. Mein Herz klopft jetzt noch wie wild. Mein kleiner Tobi!

Sonntag, 14. April 1996

14. April

»Du solltest dir eine Sekretärin zulegen. Hier rufen andauernd Leute für dich an.« Mom hatte mir eine Liste auf den Schreibtisch gelegt: Tobias, Tobias, Doris, Tobias, Max, Tobias. Ich hab gleich versucht, ihn anzurufen, aber es ging niemand ran.
Jetzt sitze ich am Kochertalweg und habe in Gedanken schon hundertmal mit Tobi geredet. Ich weiß genau, was ich ihm sagen werde, auf jede Frage, die er mir stellen wird, habe ich die Antwort Ich sehe jetzt alles viel klarer, und ich fühle mich stark.

Samstag, 13. April 1996

13. April

»Und grüße der-die-das Tobi, unbekannterweise.« Phil hatte sein frechstes Grinsen aufgesetzt und zwinkerte mir zu. ›Er weiß es, er weiß es‹, hämmerte es in meinem Kopf. Ich wollte ihn fragen, doch Oma schob mich in den Zug. Die Türen klappten zu. Ich ließ mich in meinen Sitz fallen. Warum hatte er »der-die-das« gesagt? Ach Shit, ich will darüber jetzt nicht grübeln.

Ich gucke auf die Reste von Hamburg, die am Fenster vorbeirauschen. Und auf einmal fühle ich mich stark. Tobi, ich komme! Tim kommt nach Bergbach, und alles wird anders! Denn jetzt weiß ich: »Ich bin schwul!«

Freitag, 12. April 1996

12. April

»Hey, Tim, was ist los mit dir?«
Heute bin ich den ganzen Tag wie ein Zombie durch die Gegend gelaufen. Ständig ging mir die Frage durch den Kopf, bin ich schwul oder nicht. Ich bin zum dem Ergebnis gekommen, daß ich es bin.

Immer wenn ich mir vorstelle, zu jemandem zärtlich zu sein oder Sex zu haben, ist es ein Junge. Ja, ich bin schwul, verdammt noch mal, ja. Oha, es ist das erste Mal, daß ich es mir so eindeutig sage. Irgendwie werden mir dadurch viele Sachen aus der Vergangenheit klarer. Dinge, die ich weggeschoben habe, die ich vergessen wollte, mit denen ich mich nie näher befassen wollte. Da waren so viele Sachen, an die ich statt dessen denken konnte. Die Clique, die Schule, Lernen, Skaten, Tennis. Die Schwärmerei für Jost? Ach was, hey Tim, komm wir gehen heute abend zur Fete, cool ich komme. Der niedliche Typ aus der Oberstufe, ach was, ich muß Vokabeln pauken. So viele Sachen, um nicht an das Eine zu denken.

Nur nachts lag ich wach und träumte von anderen Jungs. Und irgendwann merkte ich, daß alle um mich rum eine Freundin hatten. Plötzlich waren die deren Mittelpunkt. Nur ich, ich hatte keine Freundin, mein Leben drehte sich weiter um alle anderen möglichen Sachen. Nicht daß ich kein Mädel bekommen würde. Komischerweise rennen mir die Mädels tatsächlich richtig hinterher.

Au weia, das klingt jetzt aber eingebildet. Es ist nicht so, daß ich mit ihnen nichts anfangen kann, doch man kann sich herrlich mit ihnen unterhalten und rumblödeln. Aber Zärtlichkeit und Sex kann ich mir mit ihnen nicht vorstellen, will ich auch gar nicht! Ich will Tobi, ich will neben ihm liegen, ihn berühren, ganz langsam, ganz vorsichtig. Ich will ihn spüren, überall.

Donnerstag, 11. April 1996

11. April

»Ich muß los.« Das war alles, was er gesagt hatte. Weg war er. Und ich fühle mich absolut scheiße! Ich war heute nachmittag in der ASH. Nachdem ich den ganzen Vormittag nur rumgehangen hatte, habe ich Lust bekommen, Jungs zu sehen. Da ich keine Badehose mithatte, habe ich mir vorher noch eine besorgt. Diesmal keine Shorts, auch wenn es uncool ist. Der Junge ist mir gleich, als ich reingekommen bin, aufgefallen. Er guckte mich von oben bis unten an, und sein Blick blieb an meiner Badehose hängen. Dann guckte er schnell in eine andere Richtung und sprang ins Becken. Er war größer als ich, ungefähr gleich alt. Wenn ich ehrlich bin, sah er nicht besonders aus, ziemlich dürre. Unter der Dusche sah ich ihn wieder. Und ich sah, daß er langsam einen Ständer bekam. Er schaute ein paar mal zu mir rüber, grinste, als er sah, daß auch ich einen Ständer bekam, und verschwand in Richtung Umkleide. Ich ging hinterher. Als wir zusammen in der Kabine waren, ging alles sehr schnell. Wir redeten kein Wort, und als er fertig war, sagte er: »Ich muß los« und verschwand. Ich stand da und kam mir völlig bekloppt vor. Ich bin noch nicht mal gekommen, und der Typ rauscht ab.

Das war jetzt das dritte Mal, daß ich es mit einem Typen gemacht habe, und wenn ich es mir recht überlege, war es nie so, wie ich es mir vorgestellt habe. Das erste Mal, letztes Jahr in den Dünen bei Rantum. Es war geil, und ich war geil. Hinterher hätte ich so gerne noch mit ihm geredet, ihn so viele Sachen gefragt. Doch er fragte nur noch, ob es o.k. war, ich nickte, und er verschwand. Fast einen Monat danach noch war ich völlig durcheinander. Das war es also? Das erste Mal mit einem Jungen, war ich jetzt schwul? Alles wirbelte mir durch den Kopf, und ich konnte mit niemandem darüber reden.

Dann Mehmet, der einzige, von dem ich wenigstens auch den Namen weiß, und der Erste in der ASH. Wir hatten uns beide unter der Dusche gesehen, lange in die Augen geguckt, bevor er schließlich in der Kabine verschwand. Wir hatten unheimlichen Schiß, daß uns der Bademeister erwischen würde. Hinterher hing er wieder mit seinen türkischen Kumpels herum und guckte mich nicht einmal mehr an.

Ist das so, wenn man schwul ist? Ich wünschte, ich könnte jemanden fragen. Warum, verdammt noch mal, kenne ich niemanden, der so ist und den ich fragen kann? Vielleicht bin ich ja gar nicht schwul? Ich hab es jetzt mit drei Typen gemacht und noch nicht ein einziges Mal geküßt. Es ist tatsächlich so, ich habe bisher mehr Mädels geküßt als Jungs.

Der Sex ist o.k., aber ich möchte mehr. Ich möchte einen Jungen fühlen, seinen ganzen Körper berühren, ihn küssen, die Augen zumachen und ganz viel Zeit haben.
Warum geht das nicht?

Mittwoch, 10. April 1996

10. April

2:50 Uhr
»Tobi, komm zurück!« schrie ich und wachte schweißgebadet auf. Im Nachbarbett schnarchte Phil. Ich hatte einen schrecklichen Traum gehabt. Tobi saß in einem Ruderboot, und ich stand am Ufer. Er ruderte immer weiter weg und grinste mich hämisch an. Plötzlich war ich ganz allein auf der Welt, und Tobi wurde immer kleiner, bis schließlich auch der letzte Punkt verschwand.
Ich stand auf, zog mich an und ging raus. Ich ging zur Elbe. Ich weiß nicht, was ich glaubte, da zu finden. Bestimmt nicht Tobi im Ruderboot. Doch irgendwie wollte ich mich auch überzeugen, daß ich alles nur geträumt hatte. Das Wasser platschte träge gegen die Steine. Bevor ich zurück ins Haus ging, habe ich einen Entschluß gefaßt: Ich werde es ihm sagen. Egal, wie er reagiert. Irgendwann muß er es wissen.


9:35 Uhr
»Warst du heute nacht draußen?« fragte Oma. »Die Hintertür war nicht ver-schlossen.« Ich erzählte ihr, daß ich schlecht geschlafen hatte und etwas frische Luft schnappen war.


15:45
Tassi war nicht da, und so bin ich alleine in die Stadt gegangen. Meine übliche Tour. Ich setzte mich auf den Rathausplatz, sah jede Menge niedlicher Jungs, aber keiner lächelte zurück. Fast hätte ich einen angesprochen. Fast. Ach, so ein Unsinn, das hätte ich bestimmt nicht gemacht.


23:20
Phil und ich sind gerade von Britta wiedergekommen. Britta ist seine Neue. Sie scheint ein liebes Mädel zu sein, ganz anders als Dana. Ich hoffe für ihn, daß sie lange zusammenbleiben. Was mich wundert, ist, wie er es geschafft hat, so schnell eine neue Freundin zu finden. Irgendwie geht das mit den Mädels sowieso immer viel schneller.

Dienstag, 9. April 1996

9. April

»Mach mir keine Schande«, sagte Mom, als sie einstieg. Phil und ich guckten uns nur an und prusteten los. Dann brausten sie los. Den ganzen Vormittag machte ich eigentlich überhaupt nichts richtiges. Ich ging in den Garten, legte mich ins Gras und träumte. Am Nachmittag bin ich zu Stefan gefahren, und wir sind zu Jennifer gegangen. Abends sind wir dann kurz ins Dayz, aber da nichts los war, sind wir noch etwas durch die Straßen gezogen. Es ist seltsam, es ist, als wenn jedes Stück Straße mich begrüßt und sagt: »Hallo, Tim, schön, daß du wieder da bist. Willkommen zu Hause.«

Montag, 8. April 1996

8. April

»Du redest im Schlaf.«
»Ach ja? Und du schnarchst. Was habe ich denn erzählt?«
»Du hast ständig so was wie ›Tobi, Tobi‹ vor dich hin gemurmelt.«
»Nein, ich ...« Oh Shit, hatte ich von Tobi geträumt? Ich kann mich nicht erinnern. Jetzt muß ich schon im Schlaf aufpassen. Phil blickte forschend zu mir rüber. Ich sah zu, daß ich im Bad verschwand. Zum Glück bohrte er später nicht mehr nach.

Mittags sind wir zur Alster gefahren, haben was gegessen und sind spazieren gegangen. Ich habe Doris eine Postkarte geschickt und groß »Grüß mir die Kühe« raufgeschrieben. Komisch. Früher habe ich nie Postkarten geschrieben.

Dann sind wir noch nach Fischbek gefahren, unser altes Haus anschauen. Es war schon ein komisches Gefühl. Ich wäre am liebsten ausgestiegen und reingegangen.
Mom meinte, unsere Nachfolger hätten die Terrasse neu bepflanzt. Ich wollte noch am Gysue vorbeifahren, doch Phil protestierte und meinte, er hätte schließlich Ferien.

Am S-Bahnhof hab ich dann Tassi gesehen und schrie »Stop!« Dad machte eine Vollbremsung, und Mom bekam fast einen Herzanfall. Ich sprang aus dem Auto. Tassi und ich haben uns ziemlich lange unterhalten. Irgendwann begann Dad zu hupen, und ich sagte, sie sollen ruhig schon vorfahren ich würde später nachkommen. Mom versäumte natürlich nicht, mich daran zu erinnern, daß wir morgen ganz früh zurück müssen. Ja, ja. Es ist komisch, sie schafft es mir immer wieder, daß ich ein schlechtes Gewissen bekomme.

Wir sind zu Tassi gegangen und haben ewig gequatscht. Er wäre fast von der Schule geflogen, als von Senden ihn beim Shit-Rauchen auf dem Klo erwischt hatte. Ich hätte ihn gerne nach Jost gefragt, doch ich traute mich nicht, und wenn ich es mir recht überlege, habe ich die ganze Zeit in Bergbach nicht einmal mehr an ihn gedacht. Es ist komisch, plötzlich frage ich mich, ob ich Tobi auch irgendwann mal so schnell vergessen werde.

Schließlich hat mich Tassis Vater zurückgefahren. Mom und Dad saßen mit Oma im Wohnzimmer und schauten mich so seltsam an. Schließlich fragte mich Dad, ob ich nicht für den Rest der Ferien hier bei Oma bleiben will. Wow, ich war total baff und strahlte. »Aber benimm dich«, lachte Mom. Ich nahm es ihr diesmal nicht mal übel.
Jetzt liege ich im Bett und freue mich. Eine Woche Gnadenfrist in Hamburg. Schade, daß Phil nicht da ist, er zieht gerade mit ein paar Kumpels durch die Gegend, aber er weiß es bestimmt sowieso schon. Ich überlege mir gerade und wäge ab: eine Woche Hamburg gegen eine Woche später Tobi sehen. Doch, ich glaube, ich bin für Hamburg. Tobi läuft nicht weg, erst recht nicht aus Bergbach.

Sonntag, 7. April 1996

7. April

»Ich hab eins, ich hab eins.« Lisa hüpfte um mich herum und zeigte mir stolz ein Osterei, das sie gerade gefunden hatte. Ich saß auf dem Boden und zupfte Grashalme. So hatten Phil und ich früher auch immer ganz aufgeregt Ostereier gesucht. Bis Mom und Dad schließlich beschlossen hatten, wir wären zu alt für so was.

Irgendwann meinte Oma, sie hätte noch ein Geschenk für Lisa, und kam mit einer großen Kiste wieder. Lisa pfriemelte ganz aufgeregt die Schnur ab und juchzte, als sie reinguckte. Phil und ich sahen uns fragend an und zuckten mit den Schultern. »Ein Häschen, ein Häschen«, jubelte Lisa und strahlte über das ganze Gesicht.
»Wie, um alles in der Welt ...«, Mom wirkte überhaupt nicht begeistert. »Ihr habt doch einen Garten«, unterbrach Oma sie. Dad mußte lachen. Ich kam mir vor wie bei der Rama-Familie, aber es war schön.

Am Nachmittag kam Dads Bruder Eike zum Kaffee. Onkel Eike ist ganz o.k., aber natürlich hatte er auch diesmal seine durchgeknallte Frau und - was noch viel schlimmer war - diese arrogante Zicke von Tochter mitgebracht. Solveigh bildet sich immer noch was darauf ein, daß sie am Rothenbaum Tennis spielt. Dabei spielt sie miserabel. Ich habe zweimal gegen sie gespielt und sie vernichtend vom Platz gefegt. Dann plapperte sie, daß sie sogar Steffi Graf kennengelernt hat und daß sie in Wirklichkeit noch häßlicher aussieht als im Fernsehen. Ich hätte ihr am liebsten ein Stück Torte in den Mund gestopft, damit sie endlich ruhig ist.

Samstag, 6. April 1996

6. April

»Aber kauf dir was anständiges, nicht wieder so’n Tinnef.«
Ich hatte gewonnen. Wir erklärten den Tag zum allgemeinen Einkaufstag. Oma hatte mir heimlich etwas Geld zugesteckt. Sie zottelte mit Mom und Dad los, während ich mit Phil in Richtung Gänsemarkt zog. SkaterZ macht Räumungsverkauf, und ich habe mich mit ein paar T-Shirts, zwei Shorts und einem Paar Vans eingedeckt. Mom wird wieder mosern. »Kauf dir doch mal was Schickes«, sagt sie immer. Sie versteht einfach nicht, daß ich nicht rumlaufen will wie die Spinner von der Elbchaussee.

Ich habe für Tobi eine Postkarte vom Hafen gekauft und dick »Hier beginnt die große weite Welt!« raufgeschrieben. Und ganz klein »Wish you were here« druntergekritzelt. Irgendwie kam mir das aber dann doch zu heftig vor. Ich zerriß die Karte, kaufte eine neue und schrieb nur das mit der großen weiten Welt drauf. »An wen schreibst du denn?« wollte Phil wissen, doch ich schüttelte nur mit dem Kopf. Er fragte nicht weiter. Anschließend sind wir zu den Schönen Aussichten getapert. Phil machte sich einen Spaß daraus, die arrogante Bedienung anzubaggern.

20:53
Beim Abendessen gab es riesigen Ärger. Phil hat wohl noch immer nicht seine Wehrdienstverweigerung abgeschickt. »Ich sehe es schon kommen, du wirst eingezogen«, orakelte Mom. Dad meinte, er hätte seine Kinder nicht dazu erzogen, daß sie jetzt aus lauter Saumseligkeit zum Bund müßten. Ich finde, sie haben recht, doch ich wollte nicht auch noch auf ihm rumhacken. Plötzlich stand er wütend auf und ging in sein Zimmer. Oma seufzte. Als wir fertig mit dem Essen waren, ging ich zu Phil. Das Zimmer war dunkel. »Willst du mir jetzt auch noch Vorwürfe machen?« fragte er. »Eigentlich ja«, antwortete ich. Er knipste die Nachttischlampe an. »Es kann doch nicht so schwer sein, diesen Brief zu schreiben.«
»Nein«, antwortete er gequält, »ich mach’s ja auch, aber was soll ich denn dann machen? Zivildienst?«
»Es wird dir wohl nix anderes übrigbleiben.«
»Und was?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Stell dir lieber vor, du wirst ein Jahr lang angeschrien, mußt durch den Schlamm robben. Guck dir doch die an, die letztes Jahr Abi gemacht haben und jetzt beim Bund sind. Die benehmen sich so, als hätte man ihnen das Gehirn rausoperiert. Und wer weiß, vielleicht wirst du ja noch irgendwo in die weite Welt geschickt und erschossen. Willst du das etwa?«
»Blöde Frage.« Er knipste das Licht wieder aus. Ich komme irgendwie nicht an ihn heran. Ich will nicht, daß er zum Bund
geht.

23:21
Phil schnarcht, und ich kann nicht schlafen. Ich kann mich gar nicht erinnern, ihn je schnarchen gehört zu haben. Ich muß an Tobi denken. Wish you were here.

Freitag, 5. April 1996

5. April

»Bahn frei!«
Wir sind auf der Autobahn. Und mich packt tatsächlich das Reisefieber. Hamburg, ich komme! Ich denke an Tobi. Bestimmt schläft er noch. In seinem kleinen dunklen Zimmer. Tobi, wovon träumst du gerade? Ich stelle mir vor, ich sitze auf seinem Bett, während er schläft. Meine Hand streicht ganz langsam durch seine Locken, seinen Rücken hinunter. Shit, wir halten: Pause. Hoffentlich sieht niemand meinen Ständer.

On the road again. Tobi ist verschwunden. Ich will über die Elbbrücken. Mom und Dad sind dagegen. Also fahren wir durch den Tunnel. Die erste Ausfahrt hinter dem Tunnel. War hier früher schon alles so dreckig? Es muß wohl am Regen liegen. Oma steht schon in der Einfahrt. Und Phil.


17:30

Uff, so viel habe ich lange nicht mehr erzählt. Oma und Phil wollen alles wissen. Oma hat tollen Kuchen gebacken, ganz anders als der von Doris. Jetzt habe ich mich abgesetzt und bin zur Elbe runtergegangen. Ich blicke ins Wasser und atme tief ein. Wie schön wäre es, wenn jetzt Tobi hier wäre. Oh, Phil kommt.


21:12
»Hier steckst du also«, lachte Phil. »Dacht' ich mir's doch. Hier hast du dich als kleiner Junge schon immer rumgetrieben.«
Kleiner Junge, na toll, wieder ganz der große Bruder. Wir haben lange miteinander geredet. Ich habe ihm erzählt, wie öde ich es in Bergbach finde. Von Tobi habe ich ihm nichts erzählt.
»Und wie ist es mit den Mädels?«
»Bauerntrampel.« Sorry, Doris, dich meine ich nicht. Nicht wirklich
»Also gibt’s da unten absolut nichts für mein kleines Brüderchen?«
»Hmm, vielleicht doch, aber...« Shit, ich wollte es ihm eigentlich sagen, aber ich traute mich nicht. Phil guckte mich komisch an, ganz vielsagend: »O.k., wenn du so weit bist, erzählst du es mir. Vergiß nicht, ich kenne dich mindestens ebenso lange wie du dich.«
Ich weiß nicht, was er mit »wenn du so weit bist« meinte. Weiß er es etwa? Aber woher?

Donnerstag, 4. April 1996

4. April

15:30
»Paß auf dich auf.« Tobi guckte mich ganz ernst an.
»Ich werd' schon nicht in den Hafen fallen«, lachte ich. Er ist schon voll seltsam. Ich meine, was soll mir denn passieren? Ich habe ihn gefragt, was er in den Ferien macht, doch er zuckte nur mit den Schultern. Ich habe es aufgegeben, ihn nach irgendwelchen Sachen zu fragen. Wenn er etwas erzählen will, erzählt er es von ganz alleine. Wenn nicht, dann nicht. Viel lieber hätte ich ihn bei mir im Zimmer gehabt. Doch heute ist es viel zu wuselig zu Hause. Mom tut so, als würden wir eine sechsmonatige Weltreise machen.


22:04
Gerade hat Tobi noch mal angerufen und mir eine gute Reise gewünscht. Er hat ganz schnell wieder aufgelegt, ich konnte mich noch nicht einmal bedanken. Oh Shit, ich glaube, ich bin in ihn verknallt ihn. Ich gucke aus dem Fenster in die Dunkelheit und stelle mir vor, er würde jetzt da unten stehen. Tobi, Tobi, wenn du jetzt hier wärst. Ich hasse verpaßte Gelegenheiten.

Mittwoch, 3. April 1996

3. April

»Es schmeckt grauenhaft«, flüsterte Tobi. Doris hat heute einen riesigen selbstgebackenen Vollkornkuchen zur Schule mitgebracht. Ich überlegte mir die ganze Zeit, wie sie es wohl geschafft hatte, ihn auf dem Fahrrad zu balancieren. Tobi hatte recht, der Kuchen schmeckte scheußlich. Tapfer mühte ich mich durch mein Stück und mußte mir gleichzeitig das Lachen verkneifen. »Prima, jetzt bin ich pappsatt.« Doris war jedenfalls glücklich.

Max ist immer noch völlig down. Ich versuchte ihn etwas aufzuheitern, indem ich ihn mit Kuchenkrümeln bewarf. Er merkte es nicht mal.

Dienstag, 2. April 1996

2. Aprl

14:05
»Ich finde sie einfach nur zum Kotzen«, blaffte Tobi. Ich habe ihn in der Pause zur Rede gestellt, warum er sich in den letzten Tagen so bekloppt aufgeführt hat. Ich muß wohl ziemlich verwirrt geguckt haben, denn er fuhr fort: »Nils, Melanie und der Rest, die tun immer alle so ultracool. Das ist ja alles sooo toll, was sie machen und sagen. Ich dachte, du bist anders. Aber jetzt hängst du auch ständig mit diesen Deppen rum.« Eigentlich wollte ich ihm sagen, daß es ihn einen Scheißdreck angeht, mit wem ich mich treffe, aber ich hielt meinen Mund. Es war komisch, aber diesmal fing mein Herz nicht an wie wild zu schlagen. Ich sah direkt in seine traurigen Augen, und plötzlich tat er mir unendlich leid. Er hatte keine Freunde in der Klasse. Während alle anderen in irgendwelchen Cliquen rumhängen, wandert er meistens alleine über den Schulhof oder ist überhaupt nicht sichtbar. Ich wollte ihn in den Arm nehmen und trösten, so wie ein kleines Kind. Statt dessen knuffte ich ihn und schlug ihm vor, daß er am Nachmittag zu mir kommen sollte. Einen winzigen Augenblick lang kniff er die Augen zusammen, dann strahlten sie Augen, und er knuffte zurück. Es klingelt, Tobi. Ich glaube, heute passiert es.


20:45

Es ist nicht passiert. Aber es war trotzdem schön mit Tobi. Wir saßen lange auf meinem Bett und haben über alles mögliche gequatscht. Irgendwann stand er auf, ging zum Fenster und blickte raus. Wir schwiegen fast zehn Minuten, bis er mich schließlich fragte: »Wirst du hierbleiben, nach der Schule?« Ich stellte mich neben ihn, unsere Schultern berührten sich. »Nein, bestimmt nicht«, sagte ich. »Ich will so schnell wie möglich wieder zurück nach Hamburg. Oder woanders hin, New York, London, oder was weiß ich. Bloß nicht hier in der Einöde verkümmern.« Tobi seufzte. »Ich kann mir nicht vorstellen, woanders zu leben.« Ich verstehe ihn nicht. Was will er denn hier? Den ganzen Dorfmief und noch dazu keine Freunde? Plötzlich stelle ich mir Tobi als Rentner vor, der alleine auf einer Parkbank sitzt. Mir wurde ganz anders. Ich verscheuchte den Gedanken und schlug ihm vor, mitzukommen, Lisa vom Kindergarten abzuholen.

Lisa wartete schon an der Tür. Ganz aufgeregt präsentierte sie ein paar Ostereier, die sie bemalt und mit Füßen und Ohren beklebt hatte. Sie erklärte mir, daß das Papa-Mama-Kind-Ostereierhase wären. Ich guckte zu Tobi. Er lächelte. Auf dem Heimweg kam ich mir irgendwie ganz komisch vor. So als wäre sie gar nicht meine kleine Schwester, sondern meine Tochter, und Tobi und ich wären ein Ehepaar. Ich hätte zu gern gewußt, was Tobi in diesem Moment dachte, doch er spielte gerade Flieger mit ihr. Zu Hause stellten wir die Ostereierhasen-Familie auf den Eßtisch, und Lisa war ganz aufgeregt, was Mom und Dad wohl sagen würden. Mom gefiel die neue Dekoration, und sie meinte, Lisa müsse jetzt jede Woche etwas basteln und mitbringen. Ich stellte ihr Tobi vor, und sie fragte, ob er zum Essen hierbleiben will. Ich habe ihn flehend angesehen und ganz heftig ›Ja, ja, ja‹ gedacht. Doch er schüttelte den Kopf und sagte, daß seine Mutter sicher schon zu Hause wartet. Dann ist er abgedüst. Bevor er um die Ecke bog, schaute er sich noch mal um und winkte. »Ein netter Junge«, sagte Mom. Ich kann ihr nicht widersprechen.

Montag, 1. April 1996

1. April

»Ich habe überhaupt nichts richtiges anzuziehen«, jammerte Mom. Sie ist total aufgeregt, heute fängt sie mit ihrem neuen Job in Ulm an. Dad und ich haben uns nur angegrinst. Schwupps, war sie aus dem Haus.

Melanie knutscht nicht mehr mit Max. Das hatte ich mir gedacht. Er ist natürlich total durch den Wind, weil sie nichts mehr von ihm wissen will.

Tobi ist nur kurz angebunden und eingeschnappt. Ich wollte ihm erzählen, wie es war, aber er hat nur abgewunken. Zum Glück kam Doris dazu, und ich habe ihn einfach stehengelassen. Ich hab sie gefragt, wieso sie gestern wissen wollte, ob Tobi mit im X1 war, aber sie lächelte nur und sagte: »Warum wohl?« Shit, will sie etwa was von Tobi? Aber das kann ich mir irgendwie nicht vorstellen.

Am Fahrradständer habe ich kurz mit Max geredet. Er tut mir richtig leid, und wir treffen uns am Nachmittag.


19:30
Ich habe lange mit Max gequatscht. Er ist völlig fertig. Melanie hat ihn gestern tierisch abblitzen lassen. Und daß, wo sie noch zuvor heftig mit ihm geknutscht hat. Ich versuchte, ihn zu trösten, indem ich ihm sagte, was ich von ihr halte. Er hat mich nur ungläubig angeguckt und sagte immer wieder: »Aber sie ist doch so niedlich.« Wie kann man nur unter so einer Geschmacksverirrung leiden?

Mom ist total happy von der Arbeit gekommen. Ich freue mich für sie. Der Job scheint besser zu sein als der in Hamburg. So wie ich sie kenne, wird sie den halben Laden umkrempeln.

Ich überlege, ob ich Tobi anrufen soll und frage, warum er so komisch ist. Nein, ich mach es morgen in der Schule.